XV

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In einer Schockstarre gefangen starrte ich nach unten.
Plötzlich öffnete sich die Türe und ich konnte John sehen, der seinen Kopf hinaus streckte und den Riesen finster ansah. Manchmal beneidete ich meinen Bruder für seinen scheinbar unerschütterlichen Mut.
"Das kann man auch netter sagen.", sagte er, doch der Mann ignorierte seinen Kommentar und wiederholte seine Forderung. Dieses Mal noch energischer und lauter. Ich musste den starken Drang unterdrücken, mir die Ohren zu zuhalten. Aber damit hätte möglicherweise die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich gezogen, und das hätte auch keinem geholfen.
"Ja, dann kommen Sie doch rein, die Türe ist doch offen!", rief Sherlock aus dem Wohnzimmer und ohne darauf zu warten, dass John beiseite ging, trat der Fremde ein. John wollte protestieren, belehrte sich dann allerdings eines Besseren und warf mir einen unauffälligen Blick zu, den ich als Anweisung oben zu bleiben deutete. Ich nickte und huschte nach oben in mein Zimmer. Zu gerne hätte ich gewusst, was dort unten geregelt wurde, aber ich wollte meinem Bruder nicht in den Rücken fallen. Stattdessen tat ich das, was ich ohnehin hatte machen wollen, und las die Nachricht, die ich gestern Abend noch von Mycroft erhalten hatte. Darin stand, dass er es gar nicht abwarten könne, die ganze Geschichte zu hören, dass er sich ein wenig Sorgen um meine Schlafgewohnheiten machte, diesbezüglich noch ein ernstes Wörtchen mit mir reden wolle, und dass er um elf Uhr bei uns eintreffen würde. Auf den Punkt mit den Schlafgewohnheiten antwortete ich nur, dass seine ja auch nicht besser wären, schrieb noch dazu, dass ich mich freute, ihn gleich zu sehen, legte das Handy dann allerdings weg und zog mich um. Eine blaue Jeans und eine schwarz weiß karierte Bluse. Dann setzte mich im Schneidersitz auf den Boden in der Mitte meines Zimmers und wartete. Ich lauschte, in der Hoffnung, alarmierende Geräusche zu hören, um rechtfertigen zu können, runter zu sprinten. Doch es kam nichts und nach fünfzehn langen Minuten hörte ich wieder die dröhnende Stimme.
"Ich sage Ihnen, der große Boss wird nicht erfreut sein!"
Ich schüttelte grinsend den Kopf. Was hatten John und Sherlock dem Kerl nur gesagt?

Kurz darauf ging meine Türe auf und John kam herein. Sein Blick verriet mir, dass er sich Sorgen machte. Allerdings konnte ich den Grund dafür nur erahnen. Klar war, dass es etwas mit dem Kerl zutun hatte.
"Komm mit, Sherlock und ich müssen mit dir reden.", sagte er ernst und bekam ein wenig Panik. Und das er mir nicht sagte, dass es nicht so schlimm war, machte mich noch panischer. Dennoch nickte ich und erhob mich, um hinter ihm nach unten zu gehen.
Im Wohnzimmer saß Sherlock noch immer, oder schon wieder, in seinem Sessel und starrte ins Leere. John ließ sich ihm gegenüber in den anderen Sessel sinken und ich nahm auf dem Sofa platz. Dann schwiegen wir erst einmal ein paar Minuten, was mich noch nervöser machte.
"Also..?", fragte ich vorsichtig. "Was gibt es denn?"
John räusperte sich. "Nun, es ist so..."
"Der "große Boss" hat uns ausrichten lassen, dass, wenn wir dich nicht ausliefern, eine weitere unschuldige Person aus deinem Umfeld stirbt."
Perplex sah ich ihn an. Dann begann ich zu lachen. Doch nicht etwa, weil es so lustig war, sondern vielmehr weil es mich so panisch werden ließ. Es war eine hysterische Lache und ich beruhigte mich erst, als John sich neben mich setzte, mich in den Arm nahm und an sich drückte. Als ich seinem ruhigen Herzschlag lauschen konnte, glich meiner sich diesem Tempo automatisch an und ich kam wieder auf den Boden der Tatsachen runter.
"Geht es wieder?", fragte er mitleidig, und in diesem Moment erklang die Türklingel. Vor Schreck zuckte ich zusammen und besorgt drückte er mich wieder an sich.
"Oh, Mr Holmes! Mit Ihnen hätte ich ja gar nicht gerechnet!", erklang Mrs Hudsons Stimme und ich konnte meine Tränen nur schwer zurück halten. Was konnte ich eigentlich? Nicht einmal bescheid sagen, dass mein Patenonkel uns um elf besuchen würde, bekam ich auf die Reihe.
"Mycroft wollte-", ich schluchzte leise. "Er wollte um elf vorbei kommen. Tut mir leid, dass ich euch das nicht gesagt habe."
"Alles gut. Dass er da ist, haben wir wohl gehört. Aber es ist nicht schlimm, dass du uns das nicht sagen konntest. Wir haben dich schließlich auch nicht wirklich zu Worte kommen lassen.", beruhigte John mich, doch es war schon zu spät. Mein Schlafmangel, gemixt mit der Angst, um sämtliche Leute die ich kannte, plus die Tatsache, dass mein Pate gleich herein spazieren würde, brachte mich völlig durcheinander und meine Hormone begannen verrückt zu spielen. Unkontrolliert flossen Tränen über meine Wangen und ich fühlte mich klein und nutzlos.
"Hey, schhht.", flüsterte John, doch ich schluchzte immer weiter.
"Es t-tut mir leid.", ich schnappte nach Luft. "Ich we-weiß auch n-nicht... was mit mir l-los ist."
"Nein, alles ist gut. Alles ist gut. Weine nur."
"Wir können das alles regeln, okay?", hörte ich nun auch Sherlock sagen und dankbar blinzelte ich ihm über Johns Schulter zu.
"Wie kommt es, dass du zu dieser Stunde noch im Bademantel bist, Bruderherz?", erklang plötzlich Mycrofts belustigte Stimme. Er stand in der Türe, von wo aus er John und mich nicht sehen konnte, weshalb ich ihn allerdings auch nicht sehen konnte.
"Brüderlein.", Sherlocks Stimme war zwar kalt, aber ich konnte in seinen Augen lesen, dass er froh war, Unterstützung von seinem Bruder zu bekommen. "Wie du vielleicht bemerkt haben könntest, geht es Lili gerade nicht sonderlich gut. Wir hatten gerade ein unerfreuliches Zusammentreffen mit jemandem, was sie sichtlich belastet hat. Da hatte ich noch nicht die Zeit, mich umzuziehen. Aber falls es dich beruhigen sollte,", er stand auf, öffnete den Gürtel des Bademantels und zog ihn sich von den Schultern. Jetzt stand er wieder im Anzug vor uns. "Dann kann ich den Bademantel auch gerne ablegen."
Sofort und ohne Sherlock zu antworten, trat Mycroft einen Schritt vor, sodass ich ihn jetzt auch sehen konnte. Er hatte, wie gewöhnlich, einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug mit passender Weste und dunkelroter Krawatte an und hatte auch seinen Regenschirm dabei. Doch anders als sonst lag in seinem Blick offenkundig Besorgnis.
"Was ist passiert?", fragte er und deduzierte mich dabei ganz offensichtlich. Ich wollte antworten, doch Sherlock kam mir zuvor.
"Ein Handlanger von dem "großen Boss", hat uns besucht und gesagt, dass wir Lili ausliefern sollen, andernfalls stirbt eine weitere Person aus ihrem Umfeld."
Als Sherlock seine Worte wiederholte, kamen sie mir noch unwirklicher vor als beim ersten Mal. Tränen nargten erneut an mir und schnell versteckte ich mich in Johns Schulter, damit Mycroft mich nicht schon wieder weinen sah.
"Und was gedenkst du diesbezüglich zu tun?", fragte mein Patenonkel und klang dabei außergewöhnlich angespannt.
"Soweit war ich noch nicht.", gab Sherlock zurück und ich konnte förmlich die Luft zwischen den beiden Funken sprühen sehen. Ich wollte nicht, dass die beide sich jetzt hier stritten. Damit würde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fertig werden. Außerdem schnürte noch ein anderes Gefühl meine Kehle zu. Ein Gefühl, welches ich so sehr hasste, wie Moriartys Netzwerk. Es legte sich kalt um mein Herz und fraß an meinen Nerven als wären diese aus Gummibärchen.
"Ich habe Angst, John...", flüsterte ich unter Tränen und er strich mir beruhigend über die Haare.
Mein Herz klopfte wieder schneller und ich wusste nicht, wie mir geschah. Einerseits wollte ich aufstehen, herum rennen und schreien, aber andererseits wollte ich mich in Johns Armen verstecken, bis alles wieder vorbei war.
"Das verstehe ich. Aber keiner wird sterben. Du wirst schon sehen."
"Warum sollte jemand sterben?", auf einmal schien mir ganz klar, was zu tun war. "Wo sollt ihr mich ausliefern, Sherlock?", fragte ich und richtete mich etwas auf, um den Consulting Detectiv anzusehen. "Wenn ich dort einfach hingehe, dann muss keiner sterben. So ist es am einfachsten."
"Vergiss es.", kam es sogleich von meinem Bruder und er drehte meinen Kopf zu sich, sodass ich zwangsläufig in seine dunkelblauen Augen sehen musste. Meine Sicht war verschwommen, doch seine Augen waren so durchdringend, dass ich mich voll und ganz darauf konzentrierte und alles andere ausblendete, bis ich seine Emotionen in ihnen lesen konnte. Ich sah Besorgnis und Wut. Aber vor allem sah ich Angst. Angst um mich. "Du wirst dich nicht opfern. Vergiss es. Ich werde nicht zulassen, dass du in deinen sicheren Tod rennst. Klar? Du bist meine Schwester. Zwar nur auf dem Papier, aber inzwischen bist du meine Schwester. Und ich passe auf dich auf, bis zum bitteren Ende. Und dieses Ende, Kleine, ist noch nicht erreicht. Das wird noch viele Jahre dauern."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt