IV

39 5 8
                                    

"Also, Sie haben die Leiche gefunden?", fragte Sherlock, als wir wenig später einem jungen Mann gegenüber standen, der, laut der Plakette auf seinem T-Shirt, Lucas Montegiu hieß. Er stand ein wenig schief da, was mich irgendwie aufregte. Seine linke Schulter war viel tiefer als seine Rechte und er stand da wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
"Genau."
"Warum haben Sie die Leiche gefunden?", fragte er weiter.
"Ich arbeite hier als Fremdenführer. Ich lasse die Leute rein und raus und stehe bei Fragen zur Verfügung."
"Beschreiben Sie, wie Sie die Leiche gefunden haben.", bat John, der sich inzwischen wieder zu uns gesellt hatte.
"Nun... ich habe die Frau rein gelassen, dann habe ich sie vier Runden fahren lassen - das Standard Programm. Dann wollte ich sie wieder raus lassen, doch da war sie tot."
"Sie war also schon tot, als Sie sie raus lassen wollten... woher wissen Sie das?", fragte Sherlock.
"Nun, ich bin rein gegangen und habe nach ihrem Puls gefühlt."
"Kann jemand das bezeugen?", fragte John weiter und der Mann sah sich um.
"Die da!", er deutete auf eine Gruppe von Menschen, die hinter der Absperrung standen. "Das war die nächste Gruppe und die haben mich alle dabei gesehen, wie ich nach ihrem Puls gefühlt habe."
"Alles klar. John, geh das überprüfen.", wies Sherlock an und ohne zu protestieren ging John los. "Hast du noch Fragen, Lili? Ich weiß, was ich wissen muss."
Ich dachte einen kurzen Moment nach. "Warum war Mrs Krusha allein in der Gondel, wenn doch es doch so viele Touris gab, die mitfahren wollten?"
"Sie hat beim Einstieg eine Sonderkarte vorgelegt. Wir hatten vor einiger Zeit ein Gewinnspiel, wo man eine Privatfahrt gewinnen konnte. Und daher war sie alleine."
Ich nickte zufrieden. "Alles klar, vielen Dank Mr Montegiu."
"Graham!", rief Sherlock plötzlich und verwirrt sah ich ihn an. Wer war Graham?
"Sherlock, ich weiß genau, dass Sie meinen Namen kennen! Jetzt machen sie es nur noch, um mich zu ärgern.", beklagte Greg sich, der sofort Anderson und Donovan hatte stehen lassen, als Sherlock nach ihm rief.
"Aber es funktioniert ja auch.", grinste der Consulting Detectiv und Greg schüttelte seufzend den Kopf.
"Was gibt es denn?"
"Wann werden Sie die Leiche ins St. Barts überstellen?"
"Das wollte ich machen, wenn Sie fertig sind. Wie immer."
"Sehr gut. Dann tun Sie das. Wir fahren jetzt zu ihr nach Hause."
"Ich frage am besten gar nicht, woher Sie wissen, wo sie wohnt, oder?", fragte Greg noch, während Sherlock schon wieder wehenden Mantels abzog. "Weißt du es?", fragend sah er mich an.
"Ich bin genauso unwissend wie Sie.", gab ich zurück und hob eine Hand zum Abschied, ehe ich Sherlock folgte. Im vorbeigehen hob ich meinen Rucksack wieder hoch und warf ihn mir über die Schulter.

Wenig später saßen wir wieder zu dritt in einem Taxi. John hatte gerade erzählt, dass die Touristen die Aussage von Lucas Montegiu gestützt hatten und Sherlock hatte einfach nur desinteressiert genickt und weiter auf sein Handy gestarrt.
"Woher wissen wir eigentlich, wo Mrs Krusha wohnt?", fragte ich nach einer Weile vorsichtig.
Jetzt blickte Sherlock auf. "Manchmal muss man seine Informationen aus der Vergangenheit nutzen. Denk nach, Lili. Woher könnten wir wissen, wo deine Kunstlehrerin wohnt?"
Ich verzog nachdenklich das Gesicht und kaute auf meiner Unterlippe herum, während Sherlock seinen Blick wieder auf das Handy richtete.
"Woher könnten wir wissen, wo meine Kunstlehrerin wohnt...", murmelte ich vor mich hin. "Woher könnten wir-", plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Aber natürlich!", rief ich.
"Aha, jetzt hat sie es.", kommentierte Sherlock, ohne aufzusehen.
"Was denn?", verwirrt sah John mich an.
"Mycroft hat doch eine Liste jedes Kollegiums von jeder potenziellen Schule zusammengestellt und dann überprüfen lassen. Anhand dieser Listen haben wir dann ja überprüft, ob alle Lehrer sauber sind. Du erinnerst dich?", fragte ich. Tatsächlich hatten wir das gemacht. Vor einer Woche hatte Mycroft uns, auf meinen Wunsch hin, zuhause in 221B Baker Street besucht, und gemeinsam mit uns die Listen jedes Kollegiums durchgesehen. Das hatte ewig gedauert, aber er hatte gemeint, es wäre nötig, damit ich keinen Verbrecher als Lehrer bekäme. An diesem Tag war auch mein neuer Spitzname für meinen Patenonkel entstanden. Mycroftpedia. Er wurde nämlich von Sherlock als Wikipedia bezeichnet, als er einen halben Roman über die entstehung des Britischen Geheimdienstes ausgepackt hatte. Und da hatte der Name mir so gut gefallen, ich hatte ihn direkt übernommen. "Und da waren auch immer die Adressen bei. Entweder Sherlock hat sich alle Adressen gemerkt, oder er hat Bilder auf seinem Handy."
"Gut kombiniert, Lili.", grinste Sherlock und streckte mir sein Handy entgegen, wo tatsächlich das Bild einer der Listen drauf zu sehen war.
"Ich merke schon. Kaum ist raus, dass Mycroft dein Patenonkel ist, schon entwickelst du dich selber zu einer Holmes.", belustigt schüttelte John den Kopf und ich lief rot an. Es war ein großes Kompliment für mich. Zumindest in diesem Zusammenhang.

"Lassen Sie uns bitte hier raus.", wies Sherlock den Fahrer an und dieser hielt vor einem großen, weiß-gelben Gebäude was mich schwer an Häuse in Spanien erinnerte. Oder wenigstens daran, wie ich mir Häuser in Spanien vorstellte.
"Hier hat Mrs Krusha gewohnt?", fragte ich erstaunt und blickte zwischen Sherlock und dem Haus hin und her.
"Nein, keine Sorge. Ich hatte doch erwähnt, dass sie einen Bulgarischen Namen hat, sie kommt nicht aus Portugal.", antwortete Sherlock und ging los. Ich beeilte mich ihm zu folgen.
"Warum Portugal?"
"Hast du dir das Haus angesehen? Ganz offenkundig ein portugiesischer Bau. Warum sollte eine Bulgarin ein portugiesisches Haus bauen?"
"Vielleicht ist sie dort eingezogen?", schlug John vor, der uns inzwischen eingeholt hatte.
"Nein. Das Haus war auch viel zu heruntergekommen für Mrs Krusha. So wie ich sie einschätze, ist ihr Haus absolut sauber, kein Riss ist vorhanden und überall stehen Kunstwerke herum." überlegte ich.
"Zum einen das, und außerdem", Sherlock deutete auf ein Haus eine Querstraße weiter. "hat bei dem portugiesischen Haus die falsche Hausnummer dran gestanden.", er grinste.
"Und warum sind wir dann nicht vor dem Haus ausgestiegen?"
"Eine alte Detektiv-Regel: Steige niemals direkt vor deinem Ziel aus, sondern immer etwas entfernt. Wenn du nämlich beobachtet werden solltest, dann lässt dein Stalker sich dadurch verwirren.", antwortete John und ich nickte. Das klang logisch.
"Und wenn Gefahr von deinem eigentlichen Ziel ausgeht, kannst du es so aussehen lassen, als hättest du ein ganz anderes Ziel gehabt.", setzte Sherlock noch einen oben drauf und blieb nun dem tatsächlichen Haus von Mrs Krusha stehen. Es war ein Backsteinhaus mit dunkelbraunen Fensterrahmen, einer schweren Holztüre und einem dunklen Dach. Der Rasen im Vorgarten war penibel geschnitten und einige Pflanzen säumten den Weg zur Haustüre.
"So hatte ich mir Haus schon viel eher vorgestellt.", kommentierte ich.
"Ja, das sieht eher nach dem Haus einer Kunstlehrerin aus. Schau dir mal bitte diese Staute an.", stimmte John mir zu und deutete auf eine Steinfigur auf der linken Seite des Vorgartens.
"Warum stellt man sich sowas in den Garten?", philosophierte ich, während Sherlock schon zur Haustüre ging.
"Wenn Ihr zwei also fertig wärt, mit euren Lästereien, interessiert es euch vielleicht, dass hier eingebrochen wurde."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt