XIV

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Eine gute Stunde später waren wir zurück in 221B Baker Street.
Es ging langsam auf drei Uhr nachts zu, doch ich war nicht mehr müde. Sherlock und insbesondere John waren sofort ins Bett gegangen, als wir zuhause angekommen waren, doch ich saß hellwach in meinem dunklen Zimmer und starrte auf ein Cover der Beatles an meiner Wand. Irgendwie wollte mir nicht recht aus dem Kopf gehen, dass Lukas Montegiu sich einfach so hatte festnehmen lassen. Was hatte sein Einbruch in der Schule bezwecken sollen? Er hatte unmöglich damit rechnen können, dass wir dorthin gehen würden. Schließlich hatte Sherlock nichtmal uns mitgeteilt, wo er hin wollte. Warum also war der Verbrecher in meine Schule eingebrochen? Plötzlich vibrierte mein Handy und ich zuckte erschrocken zusammen. Wer schrieb mir denn um diese Uhrzeit noch?
Verwirrt griff ich nach meinem Handy, doch als ich den Namen "Mycroftpedia" darauf leuchten sah, musste ich grinsen. Ich entsperrte das Gerät und las die Nachricht.

Guten Abend, Lilith.
Oder wie ich vermute, guten Morgen.
Ich hoffe, du liest diese Nachricht erst morgen, weil alles andere bedeuten würde, dass du noch immer nicht schläfst. Und für Jugendliche im Wachstum ist das nicht gut. Wie dem auch sei. Ich schreibe nicht, um dich über Schlaf zu belehren. Viel mehr hege ich großes Interesse bezüglich des Falls. Natürlich sehe ich später noch den Detectiv Inspector, allerdings bezweifle ich, dass er mir so genau sagen kann, was passiert ist. Dementsprechend würde ich auch dich bitten, mir diese Informationen zukommen zu lassen.
Ich hoffe ebenfalls, dass ihr dem Drahtzieher bald auf die Schliche kommt. Um deines, deiner Freunde und des internationalen Frieden Willen. Was ich intern herausgefunden habe erfährst du morgen - ich bin schon seit gestern Morgen in London und werde euch wohl Morgen besuchen. Wenn du dies unseren Brüdern mitteilen könntest, wäre ich dir sehr verbunden.
Da der Tag sich auch für mich langsam dem Ende nähert, werde ich mir deine Bitte zu Herzen nehmen, und mich ein wenig ausruhen gehen. Das Bett im Hotel ist zwar nicht sonderlich angenehm, allerdings wird es wohl reichen müssen.
Bis später,
-MH

Ich seufzte.
Sollte ich ihm jetzt noch antworten, oder bis morgen warten? Er hatte gesagt, ich sollte schlafen. Und wenn ich ihm antwortete, wüsste er zwangsläufig, dass ich das nicht tat. Andererseits würde er ohnehin irgendwie herausbekommen, dass ich noch so spät wach war, also könnte ich ihm auch gleich schreiben. Ich seufzte erneut und legte das Handy einen Moment weg und fokussierte mich noch einmal auf das Cover der Beatles. Ich wusste, dass ich morgen bereuen würde, dass ich nicht schlief. Aber ich wusste ebenfalls, dass ich nicht schlafen könnte. Dafür war ich zu aufgekratzt. In meinem Kopf schwirrten alle möglichen Gedanken, angeführt von der Frage, ob ich meine Freunde oder Bekannte am nächsten Morgen wiedersehen würde. Es konnte jeden von ihnen zu jeder Zeit treffen. Und das war wahnsinnig beängstigend.
Ehe ich mich in diesen Gedanken verrennen konnte, griff ich wieder nach meinem Handy und tippte meine Antwort an Mycroft. Er schien mir momentan der Einzige zu sein, mit dem ich sprechen konnte. Und zwar nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er als einziger noch wach zu sein schien.

Hallo Mycroft,
Es tut mir leid, dass so sagen zu müssen, aber ich bin noch wach. Der Tag war sehr aufregend und anstrengend, und daher kann ich nicht schlafen. Auch wenn ich es versuche.
Selbstverständlich kann ich dir die Infos durchgeben. Allerdings sind wir - und mit "wir" meine ich zwar natürlich auch Sherlock, allerdings kann ich dir nicht sagen was er noch weiß -, noch nicht viel weiter als zu dem Zeitpunkt, wo wir telefoniert haben. Inzwischen haben wir Lucas Montegiu verhaftet, er war ganz offensichtlich der Mörder von Mrs Krusha. Allerdings war er ebenso offensichtlich nicht der Drahtzieher. Mich stellt diese Tatsache vor ein unmöglich zu lösendes Rätsel, allerdings weiß ich, dass Sherlock und du weitaus intelligenter sind als ich, weshalb ich euch einfach vertraue. Was genau im Lehrerzimmer passiert ist, kann ich dir dann ja morgen erzählen, wenn wir uns ohnehin sehen.
Wenn du dich ausruhen würdest, dann würde es mir tatsächlich eine Sorge nehmen. Denn nicht nur für Jugendliche ist es ungesund, so wenig zu schlafen. Aber trotzdem hast du natürlich recht, und ich werde auch wieder versuchen, etwas Schlaf zu holen. Vielleicht klappt es jetzt ja besser.
Wir sehen uns morgen,
-LW

Traurig lächelnd erhob ich mich von meinem Platz auf dem Boden, brachte mein Handy zum Ladekabel und zog mich um. Ich ging noch einmal Zähne putzen und legte mich dann in mein Bett. Ich schloss die Augen und lauschte den bekannten Geräuschen vorbeifahrender Taxis und Regens, der gegen die Fenster schlug. Nach einer Weile vernahm ich das Vibrieren meines Handys, welches die Antwort von Mycroft verkündete, doch jetzt war ich zu müde, um aufzustehen. Stattdessen begann ich mir die unschöne Situation vorzustellen, wie John auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause überfallen und gekidnappt wurde. Ich stellte mir seinen erstickenden Schrei vor und die Angst, die ihm den Brustkorb zu schnürte, während seine vermummten Entführer ihn packten und in einen schwarzen Van verschleppten. Doch als ich mich auch in diesem Gedankengang zu sehr verrannte und merkte, wie die Angst um meinen Bruder mich wieder langsam wach werden ließ, verbannte ich ihn aus meinem Kopf und zwang mich, an vorbei schwebende Wolken zu denken. Und nach einer Weile schaffte ich es tatsächlich, einzuschlafen.

Am nächsten Morgen weckte John mich.
Er hatte eine Tasse dampfenden Tees in der Hand und sah genauso aus wie ich mich fühlte: Halb tot und völlig übermüdet. Er grummelte ein "Guten Morgen", oder so etwas ähnliches und schlurfte wieder aus meinem Zimmer. Ich schälte mich aus meiner Decke, fiel dabei aus dem Bett und schlief auf dem Teppich beinahe weiter. Doch in diesem Moment fiel mir ein, dass ich noch wichtige Kunde zu überbringen hatte. Also rappelte ich mich mühsam auf und stolperte halb schlafend die Treppe hinab.
Sherlock saß hellwach und bester Laune am Küchentisch und trank seinen Tee und aß ein dünn mit Butter beschmiertes Brot. Er trug, wie immer morgens, einen seiner unzähligen Bademäntel. Heute war es ein weinroter aus samtigem Stoff.
"Guten Morgen!", trällerte er mir entgegen und nippte an seinem Getränk.
"Morg'n...", grummelte ich und nahm eine Packung Milch aus dem Schrank, um sie mir in ein Glas zu schenken. "Jungs, Mycroft kommt heute. Er will uns irgendwas über den Fall erzählen."
"Was? Wir kriegen Besuch?", fragte John verwirrt und sah mich an, als hätte ich chinesisch in rückwärts gesprochen.
"Jap."
Ich schenkte mir die Milch ein und trank das Glas in einem leer. Danach fühlte ich mich ein wenig bereiter, den Tag zu überleben. Allerdings fürchtete ich immer noch, im Stehen einzuschlafen, wenn ich mich nicht mit irgendetwas beschäftigte. Also machte ich mir ein Müsli und einen Tee, während ich John dabei zuhörte, wie er sich über Mycroft aufregte und darüber, dass er immer so plötzlich hier auftauchte. Sherlock saß einfach nur da, in Gedanken versunken und mit seinem Brotmesser in der Hand.
"Wie viel Uhr haben wir eigentlich?", unterbrach ich irgendwann Johns Gemecker.
"Gleich zehn, warum?" gab dieser zurück und nahm Sherlock das Messer aus der Hand, welches dieser gefährlich locker gehalten hatte.
"Nur so. Ich gehe mal gucken, ob er noch was geschrieben hat.", kündigte ich an und ging nach oben, als es plötzlich klingelte. Sofort verharrte ich in meiner Position. Ich ahnte schlimmes, dass Mycroft nämlich schon da wäre, während ich noch im Bademantel herum rannte. Ich konnte mir kaum etwas peinlicheres Vorstellen. Doch es kam noch viel schlimmer.
Ich hörte Mrs Hudson die Türe öffnen und sie fragen, wer dort sei. Dann hörte ich eine so tiefe männliche Stimme, dass ich nicht verstand, was gesagt wurde. Im nächsten Moment vernahm ich Schritte auf der Treppe und huschte schnell nach oben in den Flur, von wo aus ich so gerade noch den unteren Flur sehen konnte. Ein großer, breiter Mann mit Halbglatze betrat diesen und klopfte einmal stark gegen die Türe. Er war vermutlich mitte-ende dreißig und ganz offenkundig kein Klient. Ich hörte John rufen, dass wer auch immer eintreten solle, doch anstatt einfach rein zu gehen, donnerte der Mann:
"Ich komme im Namen des großen Bosses. Ich überbringe wichtige Neuigkeiten für Mr Holmes und Mrs Watson. Öffnen Sie die Türe, bevor ich sie eintrete."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt