XIX

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Der Rest des Abends verlief ereignislos.
Wir aßen den Salat und die Nudeln, räumten dann gemeinsam ab und schauten noch ein wenig Fernsehen. Es machte herzlich wenig Sinn, mit Sherlock Serien wie NCIS, McGyver oder The Mentalist zu schauen, weswegen John Grey's Anatomy anmachte. Dort allerdings, wusste der Consulting Detectiv immer alles besser, was es auch anstrengend machte. Dementsprechend gaben wir das Serien-Gucken auch recht schnell wieder auf und ich beschloss, schlafen zu gehen. Morgen würde wieder Schule sein, und ich hatte eine Mission. Ich verabschiedete mich von Sherlock und meinem Bruder und stapfte die Treppe nach oben, wo ich in mein Zimmer ging, meine Schulsachen packte und mein Handy wieder an den Strom hängte. Auch wenn ich den ganzen Nachmittag geschlafen hatte, war ich schon wieder müde und hätte im Stehen einschlafen können. Daher beeilte ich mich, in meine Schlafsachen zu schlüpfen, meine Zähne zu putzen und mich dann in mein Bett zu legen. Ich zog die Decke bis zu meiner Nasenspitze und hoffte, dass ich nicht wieder träumen würde. Doch glücklicherweise blieben mir weitere Träume erspart und es dauerte nicht lange, da fielen meine Augen zu und ich rutschte langsam in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen riss mein Wecker mich aus eben diesem Schlaf.
Grummelnd schlug ich nach dem piependen Gerät und stellte es noch einmal auf Schlummern. Es war viertel vor sieben und damit definitiv zu früh, um aufzustehen. Fünf Minuten später begann es aber wieder nervtötend zu Piepen und mit jedem Mal wurde ich wacher, bis ich mich schließlich aufrichtete, mich streckte und aufstand.
"Guten Morgen London. Es ist ein hervorragender Tag, um seiner Klassenkameradin heimlich das Leben zu retten, nicht?", sagte ich, als ich aus dem Fenster blickte und das verregnete Wetter sah. Ich löste mich von dem traurigen Anblick und ging ins Bad, um mich fertig zu machen. Damit fertig, ging ich zurück in mein Zimmer und zog meine Schuluniform an. Mit ein Grund, weswegen ich an diese Schule, und nicht eine andere gegangen war, war, dass es einem dort freigestellt war, Hose oder Rock zu tragen. Und da ich Röcke über alles hasste, hatte ich eine einfache dunkelblaue Stoffhose, ein hellblaues Hemd mit dem Logo der Schule und eine weiß-blau karierte Krawatte an. Ich schulterte meinen Rucksack und ging dann die Treppe nach unten. Entgegen meiner Erwartungen saß Sherlock in seinem Sessel und schien auf mich zu warten.
"Guten Morgen, Lili. Wie hast du geschlafen?", erkundigte er sich, als ich meinen Rucksack neben Johns Sessel auf den Boden fallen ließ.
"Gut, und du?"
"Auch nicht schlecht. Bist du bereit, für den Tag?", er hob den Blick und sah mich erwartungsvoll an.
"Wenn ich gleich erst einmal etwas gegessen habe, ja.", grinste ich und ging in die Küche, um mir ein Müsli zu machen. Dabei warf ich einen Blick auf die Uhr, die mir verriet, dass es halb acht war. Ich hatte also noch genug Zeit, um in Ruhe zu frühstücken, was ich auch tat. Dabei unterhielt ich mich ein wenig mit Sherlock, der einfach in seinem Sessel saß und die Hände gefaltet hatte. Als ich fertig mit Frühstücken war, und mir eine Wasserflasche genommen, ging ich wieder ins Wohnzimmer und schnappte mir den Rucksack.
"Ciao, Sherlock. Wir sehen uns heute Nachmittag - ich bringe Nicky mit.", verabschiedete ich mich von dem Consulting Detectiv, der zum Abschied winkte. Ich ging nach unten, zog mir meinen neuen Mantel, den ich bei meinem ersten Treffen mit Mycroft bekommen hatte, an und verließ das Haus. Vor der Türe lag die Tageszeitung und ich legte sie noch schnell für Mrs Hudson auf den kleinen Tisch neben ihrer Wohnungstüre. Dabei fiel mein Blick auf die Schlagzeile auf der ersten Seite.

Scotland Yard - Alles Betrüger?
Der Scotland Yard hat am Vortag auf einer Pressekonferenz zugegeben, dass sich mindestens zwei korrupte Polizisten in ihren Reihen aufhalten.

Auch wenn mich der Artikel brennend interessierte, vor allem da Greg beim Scotland Yard war, aber ich hatte nicht die Zeit mir den ganzen Text darunter durchzulesen, da ich so schnell wie möglich ein Auge auf Nicky haben wollte. Ich beschloss, Frau Hudson später nach der Zeitung zu fragen und verließ das Haus erneut.
Mein Schulweg war vielleicht zwei Minuten, da meine Schule mehr oder weniger direkt um die Ecke lag. Ich erreichte das Gebäude also um gut viertel vor acht und ging auf direktem Wege zu meinem Klassenraum, wo eine gewaltige Gesprächslautstärke herrschte. Mein Sitzplatz war in der dritten Reihe neben Nicky am Fenster. Und tatsächlich sah ich das rothaarige Mädchen bereits auf ihrem Platz sitzen und sich mit ihrer anderen Nachbarin unterhalten. Ein wenig nervös ging ich zu meinem Stuhl und ließ meinen Rucksack daneben fallen.
"Hi, Lilith.", begrüßte Nicky mich strahlend. "Hast du schon gehört? Mrs Krusha ist verschwunden."
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Sollte ich sagen, dass ich davon wusste? Dass ich wusste, dass sie ermordet worden war? Dass ich sogar die Leiche gesehen hatte? Doch glücklicherweise wurde mir die Entscheidung abgenommen, als ein Junge, der eine Reihe vor uns saß, sich zu uns umdrehte.
"Ich habe gehört, sie ist ermordet worden. Im London Eye."
"Wie kommst du denn darauf?", lachte Nicky und schüttelte ungläubig den Kopf. Das Mädchen, welches auf der anderen Seite neben ihr saß und glaube ich Clara hieß, nickte.
"Ich habe das auch gehört. Mein Vater hat einen Freund, und der Cousin arbeitet in der Buchhaltung der Polizei. Und die haben gesagt, dass eine Kunstlehrerin am Freitag ermordet wurde."
"Aber es gibt ja wohl mehr als eine Kunstlehrerin in London.", widersprach Nicky.
"Aber es ist schon komisch, dass Mrs Krusha verschwindet, und die Rede von einer ermordeten Kunstlehrerin ist.", meinte der Junge, der meines Wissens Rufus hieß.
"Lilith, was meinst du?", fragte Nicky und sah mich erwartungsvoll an. Doch in diesem Moment kam eine Lehrerin in das Klassenzimmer. Es war Mrs Odell, unsere Latein und Geschichtslehrerin.
"Liebe Schüler und Schülerinnen, ich möchte bitte kurz einmal eure ungeteilte Aufmerksamkeit.", rief sie und langsam erstarben alle Gespräche. "Wie der ein oder andere von euch vielleicht mitbekommen hat, ist unsere gute Kollegin und Lehrerin Mrs Krusha am vergangenen Freitag von uns gegangen..."
Triumphierend sahen Clara und Rufus Nicky an.
"Die Gedenkfeier wird kommenden Sonntag sein, und ihr seid alle eingeladen. Wer möchte, kann freiwillig eine Fürbitte oder ein anderes Gebet schreiben, welches dann vorgetragen wird."
"Als ob ich am Wochenende für den Drachen bete!", murmelte Rufus und sowohl Clara als auch Nicky nickten zustimmend. Ich nicht. Ich fühlte mich schlecht. Ich hatte die Leiche gesehen, sie untersucht, war nach der Obduktion dabei gewesen und wusste, wie sie gestorben war. Über ihren Tod konnte ich keine Witze machen. Ich nahm mir fest vor, zumindest bei der Gedenkfeier vorbei zu sehen. Ich musste ja kein Gebet schreiben.
"Gut. Dann beginnen wir auch gleich mit dem Unterricht.", kündigte Mrs Odell an. "Holt bitte eure Latein Sachen hervor."
Unter gemurmeltem Protest holten wir unsere Sachen hervor. Ich hingegen war ziemlich erleichtert, dass wir das Thema "Mrs Krusha", ablegten und uns stattdessen dem Unterricht zuwandten. Latein gehörte bisher zu meinen schwächsten Fächern, aber Sherlock hatte sich erboten mir dabei zu helfen, weshalb ich mir eher weniger Sorgen um die Sprache machte.
"Ich weiß, dass du etwas weißt.", flüsterte Nicky mir plötzlich zu, als wir gerade etwas übersetzen sollten. Vor mir lag ein Wörterbuch und drei Seiten mit Tabellen von irgendwelchen Endungen die mir jetzt schon Kopfschmerzen bereiteten.
"Ich weiß was?", fragte ich unschuldig, auch wenn ich wusste, dass sie von Mrs Krusha sprach.
"Wegen du weißt schon wem."
"Caesar und Kleopatra? Ne, ganz ehrlich. Die beiden hätten sich einfach mal zusammenreißen sollen und ein Kondom benutzen. Dann wäre der ganze Mist nicht passiert.", ich bemühte mich, so ernsthaft wie möglich zu klingen.
"Mensch Lilith! Jetzt-"
"Mrs Green! Wenn Sie eine Frage haben, dann fragen Sie bitte mich.", unterbrach Mrs Odell meine Nachbarin plötzlich und schnell schüttelte Nicky den Kopf.
"Nein, nein. Schon gut, vielen Dank. Ich schaffe das schon.", dann wandte sie sich ihrem Text zu, um mir einen Moment später zu zuraunen: "Glaub nicht, du würdest einfach so davonkommen. Ich will alles wissen."

New Identity - Die 26. GondelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt