KAPITEL IX | Versagen

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Niek blickte mit Entsetzen auf das Bein, welches vor ihm aus dem Boden ragte, wie eine Baumwurzel, die versuchte in die falsche Richtung zu wachsen.

Die einst so helle Haut des jungen Unterweltlers war mit Erde bedeckt und Käfer machten sich bereits über eine offene Fleischwunde her und gruben sich dort tiefer ins Fleisch und die Muskeln hinein.

Niek musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle zu erbrechen.

„Was ist los?“, fragte Bente an der Spitze der Patrouille, als er bemerkte, dass Niek ihnen nicht mehr folgte.

Niek bekam keinen Ton heraus, weshalb seine Kameraden zu ihm zurückliefen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte.

Als seine Kameraden das Bein entdeckten, wurden ihre Gesichter bleich. Anton reagierte nach ihrer kurzen Schockphase als erstes, kniete sich vor dem Bein auf den Boden und fing an die Erde nach und nach von dem Körper zu streichen.

Erst legte er den Oberkörper frei, dann den Kopf mit seinem blonden Schopf – der Körper war nicht tief verbuddelt, nur eine dünne Erdschicht war über ihn geschüttet worden. Es war tatsächlich Linus. Seine Augen starrten trocken und erdig hinauf in den Himmel. Niek blickte auf die Brust des Jungen in Erwartung, dass sie sich heben und senken würde, doch der Brustkorb lag still.

„Er ist tot“, stellte Anton fest, so als wäre es nicht offensichtlich.

„War es ein Drache?“, fragte Bente.

Anton musterte die Gliedmaßen des Jungen. „Er hat eine Wunde am Arm, aber ich denke nicht, dass er daran gestorben wäre“, murmelte der Brünette, dem es sichtlich schwerfiel, so objektiv auf den Leichnam zu schauen.

„Er hat eine Verletzung am Kopf“, fügte Ningyo hinzu. Der Pirat war an den Kopf von Linus getreten und hatte diesen genauer in Betracht genommen – viel bewegen konnte man jedoch nicht, die Muskeln des Kindes waren noch ganz steif und unbeweglich. Dennoch konnte man sehen, dass an der Hinterseite seines Schädels ein Loch klaffte.

„Das sieht nicht nach einem Drachen aus, sondern so, als wäre er gestolpert oder ähnliches“, stellte Ningyo fest.

„Aber wieso sollte er dann so verbuddelt worden sein? Gibt es Drachen, die das tun?“, fragte Niek verwirrt.

„Niemals, nicht so zumindest“, entgegnete Ningyo. „Es gibt Drachen, die schleifen ihre Beute auf Bäume oder verstecken sie in Höhlen, aber dabei reden wir von angefressenen Kadavern. Dieser Junge wurde von keinem Drachen angefallen.“

Was mit diesen Worten impliziert wurde, blieb offen zwischen ihnen stehen. Niemand sprach die Worte aus, aber allen war klar, was gemeint war: Mord.

Doch Niek fand es schwer zu glauben, dass jemand von den Ekliptik-Bewohnern einem kleinen Jungen etwas Böses tun wollte. Linus war manchmal laut und penetrant, aber es gab keinen Grund, ihn dafür zu ermorden. Niek weigerte sich zu glauben, dass solch böse Menschen unter ihnen lebten, die zu diesen Taten fähig waren.

„Könnte es ein Parasit gewesen sein?“, wagte Niek zu spekulieren. „Wegen der vereinzelten, kleinen Wunden meine ich.“

„Selbst wenn, wie soll ein Parasit ihm den Schädel eingeschlagen und verbuddelt haben?“

„Er könnte gestürzt sein. Und er war nun einmal nicht tief in der Erde verbuddelt. Vielleicht haben die Insekten und Nager ihn mit Dreck bedeckt“, versuchte Niek weiter zu argumentieren.

Seine Kameraden blickten skeptisch, Niek tat es auch.

„Was auch immer passiert ist“, warf Bente letztlich ein: „Wir sollten Linus erst einmal zurück ins Lager bringen.“

Dragontale - Etappe IVWo Geschichten leben. Entdecke jetzt