KAPITEL XXX | Und wenn sie nicht gestorben sind...

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Er rannte blitzschnell durch die Gassen. Die Wände flogen zu seinen beiden Seiten förmlich an ihm vorbei und in Windeseile hatte er den Schachteingang erreicht. Lir hatte ihn nicht hinter sich verschlossen – er besaß auch gar nicht die Werkzeuge dafür –, sodass Niek mit Leichtigkeit hineinspringen und den Schacht entlangstürmen konnte.

Bald sah er Lirs Schuhsohlen vor sich und sprang dem Mann aufgewühlt auf den Rücken.

Der Pirat warf sich erschrocken zur Seite und stieß sich in dem engen Schacht dabei den Ellenbogen.

Nele, die vor ihm gekrabbelt war, schrie erschrocken auf. Ihre Wangen glänzten im schwachen Licht feucht vor Tränen.

Als Lir Niek erkannte, packte er den kleinen Drachen, ehe dieser weiterflitzen konnte. „Niek", sagte er mit seiner ruhigen Stimme. „Was is' los?"

Niek atmete schwer. Er unterdrückte den Drang, seine Zähne in Lirs Hals zu schlagen und entsann sich stattdessen daran, wer er war.

Ich schaffe das, redete er sich ein und verwandelte sich zurück in einen Menschen.

„Entschuldigung", keuchte Niek und kroch dabei von Lir herunter.

Der Pirat blickte ihn besorgt an. „Du konntest entkommen", sprach er das Offensichtliche aus.

Niek nickte. Er hatte es tatsächlich geschafft. Er war den Piraten entkommen, hatte sich tagsüber verwandelt und es wieder zurück in seine Menschenform geschafft – auch wenn ihm für einen kurzen Augenblick Panik überkommen hatte.

„Hat der Kapitan dir was getan?", fragte Lir da.

Niek dachte zurück an seine kalten Finger, die ihn gepackt hatten. „Nein", hauchte er.

Lir blickte ihn noch für einen Herzschlag genaustens an, dann nickte er. „Du kannst sonst mit mir reden", sagte er noch, ehe er sich wieder umdrehte und zusammen mit dem kleinen Mädchen weiter durch den Schacht kroch.

Nachdenklich folgte Niek dem Piraten. Als der Schachtausgang bereits in Sicht kam und ihnen helles Sonnenlicht den Weg in die Freiheit zeigte, wagte Niek es zu fragen: „Lir, hat Phorkys dir damals etwas getan?" Seine Stimme war leise, kaum hörbar. Er musste an Jelger denken, daran, wie sein Vater ihn vergewaltigt hatte, doch er traute sich nicht, die Worte in den Mund zu nehmen.

Für einen Herzschlag kroch Lir weiterhin schweigend durch den Schacht, sodass Niek bereits glaubte, dass er nicht mehr antworten würde, doch dann offenbarte er knapp: „Ja."

Jeder seiner Muskeln spannte sich vor Wut an, sodass Nieks Krallen Furchen durch den Stein zogen. Er überlegte, was er sagen könnte, um seinem neuen Kameraden beiseitezustehen, aber er wusste, dass keine Worte dieser Welt rückgängig machen könnten, was Lir widerfahren war. Also sagte er lediglich: „Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder in Phorkys' Nähe musst."

Vor dem Schachtausgang stoppte Lir. Er half dem kleinen Mädchen dabei, an die Oberwelt zu klettern, dann wandte er sich lächelnd zu Niek um und hauchte: „Danke, dass du mir so n' guter Freund bist."

Er gab Niek nicht die Chance zu reagieren, sondern folgte Nele sogleich an die frische Luft.

Niek lächelte schwach und folgte dem anderen. Dann rannten sie zu dritt in den Schutz des Dickichts und kehrten auf direktem Weg zurück zu der Stelle, an der die anderen auf sie warteten – gleich neben der Schneise.

Die meisten der geretteten Gruppe waren bereits mit X und Freyning fortgeflogen.

Nur noch die Aufständler, sowie Alea, ihr Freund und die Tante von Nele waren zurückgeblieben. Samira lief Nele vor Freude weinend entgegen, als sie das Kind im Wald erblickte. Sie drückte die kleine, dürre Gestalt schluchzend an sich und wiegte sie in ihren Armen.

Dragontale - Etappe IVWo Geschichten leben. Entdecke jetzt