14. Damals

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Der Weg zum See war lang, aber ich kann mich kaum noch daran. Wie in einem Meer aus schwerem Nebel trottete ich geradeaus, die Gedanken nicht weiter als auf den nächsten Pfotenschritt gerichtet, zu schnell, um sie noch einzuholen und gleichzeitig zu flüchtig, um sie selbst verstehen zu können. Moos, Moos raschelte unter meinen Pfoten. Vogelzwitschern drang an mein Ohr, Waldgeruch in meine Nase, ich fühlte den kalten Wind an meinem Fell und doch fühlte ich nichts, sah nur zu, sah zu von weit, weit weg.

Und irgendwann standen wir vor ihm. Vor diesem See, vor diesem riesigen See, vor all dem sternenklaren Wasser, in dem sich der Himmel spiegelte und Mond und Sonne und alles andere, was es noch gab, zwischen Finsternis und Schatten. Und zwischen all der Dunkelheit und all dem Licht stand ein Schatten, ein kleiner, weißer Schatten, ein kleiner, weißer Schatten mit braun getigertem Fell und weißen Flecken, winzig noch, ein Junges, eine kleine Kätzin, die uns mit ihren klaren, grünen Augen musterte.

Du warst der einzige, der sie kannte. Und du warst der einzige, der vor ihr zurückwich.

»Haseljunges«, hauchte ihre Stimme, kaum mehr als ein Flüstern im Wind. »Ich bin Haseljunges.«

Mit diesen Worten tauchten andere Katzen auf, unzählige Katzen, Katzen, die ich kannte, Katzen, von denen ich gehört hatte und Katzen, die vergessen wurden, unzählig viele Katzen tauchten auf, neben uns, hinter uns, vor uns, so viele Katzen, immer und immer mehr. Nachtseele wich zurück, ihre Ohren zuckten, in ihren Augen schimmerte das Sternenlicht, doch wohin wich sie zurück? Sie waren überall, wir konnten nicht vor ihnen weglaufen. Eichenpfote sah sich um, er kannte kaum jemanden von ihnen allen - und du, was war mit dir? Wieso hast du nicht auch nach jemandem gesucht, damals? Wieso hast du nur stumm Haseljunges angestarrt, ohne dich zu regen, ohne etwas zu sagen, ohne etwas zu tun?

»Eichenpfote.« Haseljunges' Stimme zerbrach die Stille um uns herum. »Eichenpfote?« Sie sah dem kleinen Kater in die Augen. »Ich habe dich vermisst«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Maunzen, so winzig war sie noch, so zerbrechlich wirkte sie und doch wirkten ihre Augen so alt, so unglaublich alt.

Eichenpfote sah ihr entgegen. Ich konnte sehen, wie sein Blick aussah, ich konnte es sehen und ich weiß, dass du es gesehen hast, bevor du die Augen geschlossen hast. »Ich kenne dich nicht«, sagte er.

»Du kennst mich«, sagte sie. Unendliche Trauer flimmerte in ihren Augen auf. So unendlich große Trauer. »Es ist lange her, nicht wahr? Du bist Schüler geworden. Und so viel gewachsen.« Sie machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu, er wich zurück, sie blieb stehen. »Du erinnerst dich nicht mehr an mich. Du warst so klein, damals.«

»Wer bist du?« Eichenpfotes Stimme zitterte.

»Erinnerst du dich nicht?« Sie sah ihm in die Augen. »Erinnerst du dich nicht daran, dass du eine Schwester hattest?«

Aber Eichenpfote wich nur zurück, versteckte sich hinter Nachtseele. »Ich habe keine Schwester. Nachtseele, was machen all die Katzen hier? Ich habe keine Schwester. Das kann nicht sein. Das muss eine Verwechslung sein. Ich habe keine Schwester...« Seine Worte wurden zu seinem leisen Maunzen.

»Weißt du nicht mehr, wie wir in der Kinderstube gespielt haben?« Haseljunges' Blick glitt ins Leere. »Wir haben Jagd gespielt, ich war das Kaninchen und du der Jäger ... ich war der SonnenClan und du der Krieger...« Sie richtete ihre Augen auf Eichenpfote. »Wir haben uns alles geteilt...«

Der kleine Schüler schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe keine Schwester...«

»Eichenpfote?« Haseljunges wirkte verzweifelt. »Kannst du mir wenigstens in die Augen sehen?«

Er schüttelte sich. »Das muss eine Verwechslung sein...« Doch er sah auf und - fing an zu weinen, so furchtbar zu weinen, dass die Sternenkrieger zurückwichen, selbst wir zurückwichen. »Ich wollte dich nicht vergessen, Haseljunges! Es tut mir so leid, ich wollte es nicht! Ich wollte es nicht...«

»Auf einer Reise trennen sich Schatten von Herzen«, sagte Haseljunges leise, verstummte nicht, auch nicht, als ihr Bruder leise aufjaulte. »Sucht nach Sternen, sucht nach Mond und Sonne und nach dem, der das Lager als Junges verließ und nie zurückkehren soll. Nur so werdet ihr erkennen, dass Weizen manchmal nicht von Spreu zu trennen ist...«

»Ich will nicht sterben! Ich wollte das nicht! Ich wollte dich nicht vergessen!« Er schluchzte, sah dann den Sternenkriegern entgegen. »Ich weiß, ich habe dich vergessen, aber ich wollte doch nie - etwas anderes sein - als ein guter Krieger...«

»Eichenpfote...«

»Ich weiß! Ich bin doch nur hier, weil ich meine Schwester vergessen habe! Ich habe sie vergessen! Ich habe - meine Schwester...! Deshalb bin ich hier. Deshalb sind wir alle hier!« Er schluckte die Tränen hinunter. »Ich ... ich bin der Schatten. Ich muss getrennt werden. Ich bin das Junge, das das Lager verließ, und ich soll nie zurückkehren.«

Absolute Stille erfüllte die Lichtung. Niemand sagte ein Wort, nur Eichenpfote wimmerte leise. Als ein Krieger vortrat, verstummte auch er, sah mit seinen stumpfen, großen Augen starr geradeaus.

Schwanenglanz hob die Stimme. »Eichenpfote-«

»Ich will nicht sterben!«

»Eichenpfote«, wiederholte die Kriegerin und sah uns vier an. »Das musst du auch nicht. Wir meinen jemand anders.«

WarriorCats - Als ich glaubteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt