18. Wieso ich dich brauche

20 2 0
                                    

»Führ mich zu ihm.« Meine Stimme war entschlossen und klar. »Haseljunges, zeig mir, wo Gerstenfeder ist.« Sie wirkte überrascht. Ich neigte den Kopf. »Bitte«, fügte ich hinzu.

Sie sagte nichts. Zuckte nur mit den Ohren, schnippte mit dem Schwanz und ließ Schwanenglanz wortlos zurücktreten. Dann setzte sie die Pfoten geradeaus, auf das Moos, so sanft, lautlos, dass es sich kaum bewegte unter ihren Tatzen. Sie war so klein, so jung. Und doch so viel älter als ich, so viel erfahrener, so viel wissender.

»Kannst du schneller gehen? Haseljunges, ich-«

»Wir haben Zeit.« Sie senkte den Blick. »Du warst schnell in deiner Entscheidung. Ob das gut ist oder schlecht, musst du allerdings wissen.«

Ich weiß nicht, wie lange wir liefen. Ich weiß nur noch, dass sie irgendwann stehen blieb und sagte, ohne sich zu mir umzudrehen: »Den letzten Weg musst du allein gehen.« Sie zuckte mit den Schnurrhaaren.

Einen Moment zögerte ich. »Verzeihst du ihm?«, fragte ich leise.

Doch sie antwortete nicht, deutete nur stumm geradeaus.

Schweigend schlich ich mich an ihr vorbei, meine Pfoten raschelten auf dem modrigen Waldboden. Wolken hatten sich über den Himmel gelegt, kein einziger Stern war zu sehen, auch der Mond war nirgends zu sehen. Stattdessen schlug mir Wind entgegen, eiskalter Wind.

Mir schauderte.

Dort standest du. Kaum mehr als ein Schatten vor den Klippen, kaum mehr als der Hauch eines Schattens, der sich von der Dunkelheit um ihn herum abzeichnete. Dort standest du, im Wind der Finsternis, im Wind der Nacht. Dort standest du, direkt an der Klippe, ein einziger Schritt hätte uns trennen können, für immer.

Dort standest du und hast in die Finsternis gestarrt. Deine Ohren zuckten, als du mich bemerkt hast, doch du wolltest dich nicht umdrehen.

»Geh bitte«, sagtest du. Nichts weiter, nur ›geh bitte‹.

»Nein«, sagte ich. Nichts weiter, nur ›nein‹.

Die Stille war unheimlich. Stille hatte mich nie gestört, die Stille zwischen uns war mehr als nur Stille, es war wortlose Sprache, irgendwie eine innere Verbundenheit, aber diese Stille war anders als sonst, anders als gewöhnlich, es war Stille, die mich zusammenzucken ließ, so sehr tat sie weh. So unendlich sehr.

»Du bist der beste Schüler, den ich mir je hätte vorstellen können«, sagtest du leise. »Der beste Schüler, den wir jemals hatten.«

»Du warst der beste Mentor, den ich mir je vorgestellt hätte«, hauchte ich.

»Sag das nicht. Du weißt nicht, was du sprichst.« Du hast gelacht. Nicht dieses herzliche, fröhliche Lachen - nein, es war ein Lachen, das mich innehalten ließ, so sehr tat es weh. So unendlich sehr. »Du verstehst noch nicht, was passiert ist. Du bist zu gutherzig, um zu verstehen.«

»Ich brauche dich.«

Das hattest du nicht erwartet. Einen Moment sah ich, dass du dich fast umgedreht hättest. Wieso hast du es nicht getan? Wieso?

»Das stimmt nicht«, meintest du dann, »Du wirst ein guter Heiler sein. Der beste, den der Clan jemals hatte.«

»Ich brauche dich.« Ich machte einen zögerlichen Schritt auf dich zu.

»Hör auf!« Mit einem wütenden Fauchen hast du dich umgedreht. Deine Augen funkelten. Funkelten so wütend. »Du weißt, wer ich bin! Du weißt, was ich getan habe! Und du weißt, was die gerechte Strafe dafür ist!«

Ich wich nicht zurück. »Ich brauche dich, Gerstenfeder«, wiederholte ich.

Aber du hast nur die Zähne gebleckt. »Was weißt du schon vom Leben. Du bist kaum noch ein Junges. Du hättest es sein können. Du hättest sterben können und ich hätte nichts getan. Weil ich-«

»Du hast mir das Leben gerettet.«

»Und Bärenjäger und Schwanenglanz und Haseljunges habe ich sterben lassen!«

»Gersten-«

»Hör auf!« So wütend hatte ich dich noch nie gesehen. Deine Krallen waren ausgefahren, doch du bist nur zurückgewichen. »Es kommt immer eine Zeit, in der man sich verabschieden muss. Akzeptier das einfach.«

»Gerstenfeder...« Tränen in meinen Augen, aber ich konnte mich nicht rühren. »Gerstenfeder, ich brauche dich...«

Wind wirbelte mir um die Ohren, dröhnte in meinem Kopf, riss an meinem Fell, Tränen brannten in meinen Augen, mein ganzer Körper zitterte vor Angst, vor Angst und Schmerz und Entsetzen und Hilflosigkeit, als ich dir still in die Augen sah, in diese wütenden, funkelnden Augen, die mir ebenso hilflos und ebenso verzweifelt entgegenblickten.

»Waldherz?« Einen Moment war alles still. »Waldherz, du musst nicht weinen...« Ich schüttelte den Kopf, schluchzte leise. »Waldherz?« Du machtest einen Schritt auf mich zu, hast mir mit der Nase das Ohr berührt. »Waldherz, alles wird gut. Keine Sorge. Alles wird gut. Ich passe auf dich auf.«

»Du darfst nicht gehen.« Tränen rannen mir über die Wangen. »Das darfst du nicht. Das musst du nicht. Du bist mehr als nur das. Du bist so viel mehr als nur ... das...«

»Ich bleibe bei dir. Ich werde immer auf dich aufpassen. Du musst nicht weinen. Alles wird gut.« Vorsichtig lächeltest du. »Alles wird gut, Waldherz. Ich bleibe bei dir. Für immer. Ich springe nicht. Ich bleibe bei dir, hörst du? Du musst nicht weinen.«

Und für einen Moment war der Wind wieder warm und das Lächeln auf deinen Lippen wieder das, was ich kannte. Für einen ganz kleinen Moment.

»Gerstenfeder! Waldherz! Da seid ihr ja!«

WarriorCats - Als ich glaubteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt