28. Ein unfreiwilliger Harry Potter-Ausflug

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Ich spüre das letzte bisschen Farbe aus meinem Gesicht weichen. „Wenn sie das sind, dann gibt es doch eigentlich nur eine Sache, die sie von mir wollen können, oder? Ich bin auch ein Menschling. Ich hätte niemals sehen dürfen, was Horion getan hat." Was Jessie getan hat? Hätte Jessie wissen müssen, welche Folgen sin Handeln haben wird?

Alice fährt sich mit der Hand übers Gesicht, auch wenn ich keine Tränen gesehen habe.

„Ich fürchte, ja", antwortet sie dann. „Aber ich glaube, ich weiß den Weg hier raus."

„Okay. Lass uns schnell Jessie holen gehen -"

„Nein. Wir können nicht." Alice wirft nun auch wieder Blicke über die Schulter. „Entweder ser hat sich schon selbst in Sicherheit gebracht oder wir können sim nicht helfen. Ich habe dich im letzten Moment - es ging nicht nur um Jil."

Die Rufe mit meinem Namen haben sich wieder entfernt. Vielleicht habe ich sie mir von Anfang an nur eingebildet. Ich war geschockt, ich war nervös. Wahrscheinlich sind sie nie da gewesen.

Jetzt erfüllt eine andere Art von Taubheit meine Gliedmaßen. Wir müssen hier weg und zwar zügig.

„Wo lang?"

Alice zeigt in die Richtung, in die wir vorher schon gelaufen sind. „Wir werden nicht dort herauskommen, wo wir hereingelassen wurden, aber der Wagen wurde wahrscheinlich ohnehin schon entdeckt."

Wohl wahr. Das Auto ist nicht unbedingt unauffällig.

Langsam laufen wir los. Ich bin froh, dass ich keine anderen Schuhe angezogen habe, als die, die ich vor der Party getragen habe. Eigentlich wäre es doch nur sinnvoll gewesen, dass Alice die passenden Schuhe für einen plötzlichen Outfitwechsel ebenfalls eingepackt hätte, oder? Vorhin haben wir noch darüber gelacht, dass wir alle Sneaker tragen. Wieso mache ich mir jetzt darüber Gedanken?

Ich habe noch immer das Gefühl, dass mein Gehirn nicht richtig funktioniert, als ich hinter Alice her stolpere. Meine Füße machen seltsam hohle Geräusche auf dem Boden. Unsere Schatten wandern über die Wand, zuckend und diffus in dem Licht, dessen Ursache ich immer noch nicht habe feststellen können.

„Wir sind gleich da. Da vorne um die Ecke, da geht eine Leiter hoch. Wenn wir da sind, kommen wir im Keller von -"

Schritte ertönten hinter uns. Harte, schnelle Schritte, Schritte, wie sie nicht von Partyleuten verursacht werden, die eine kurze Pause von der Musik und den Getränken benötigen. Das sind Schritte von Leuten, die sich aus ganz bestimmten Gründen hier aufhalten.

„Lauf!", zischt Alice. „Mach schon!"

Aber die Schritte kommen näher und als ich mich umwende, sehe ich dunkle Gestalten, die auf uns zu rennen. Es sind vielleicht drei oder vier, doch da sich meine Selbstverteidigungskenntnisse darauf beschränken, einem Mann wenn möglich in die Weichteile zu treten, sehe ich wirklich keine Möglichkeit, wie wir uns ihnen entgegenstellen könnten.

„Schneller!" Immerhin müssen wir uns keine Mühe mehr geben, leise zu sein. Wir wurden ohnehin schon längst entdeckt. Kurz habe ich den Instinkt „Wir suchen nur die Toilette" über die Schulter zu rufen, aber das würde auf dem aktuellen Stand der Dinge wohl niemanden mehr täuschen.

Die Gestalten sind gleich bei uns und zu meinem Entsetzen kann ich immer noch keine Gesichter erkennen, als ich einen Blick nach hinten werfe, sie sind einfach nur dunkle Flecken hinter Kapuzen. Kaum ist der Gedanken an die Dementoren aus Harry Potter in meinem Kopf aufgetaucht, wird mir kalt.

Prompt stolpere ich über meine eigenen Füße.

Ungeschickt lande ich auf allen Vieren, springe wieder auf, doch es ist bereits zu spät. Eine Hand schließt sich um meine Knöchel. Eisige Blitze durchzucken meinen Körper, als bestehe die Hand nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus flüssigem Stickstoff.

Ich reiße an meinem Fuß. Der Griff der Hand lockert sich.

Plötzlich ist Alice da, lässt den highheel-bewehrten Fuß hervorschießen und trifft meinen Verfolger am Brustkorb. Sie bezahlt damit, dass sich im nächsten Moment zwei der Gestalten auf sie stürzen.

„Los!", sie schubst mich nach vorne, lotst mich aber damit gekonnt um die Ecke. „Ich komme nach! Geh!"

Ich renne los. Meine Beine brennen. Meine Lunge brennt. Meine Augen brennen, aber das hat wohl andere Gründe, aber ich renne. Ich könnte ihr nicht helfen, wahrscheinlich wäre ich sogar mehr im Weg als wirklich von Nutzen.

Ich stürze um die Ecke. Vor mir ist die Leiter, die Alice erwähnt hat. Beinahe automatisch schließen meine Hände sich um die Griffe. Ich realisiere abwesend, dass sie gepflegt sind, nicht so rostig wie die anderen Leitern, die ich in den letzten Tagen hinaufgekraxelt bin. Die nehmen das mit der Unterwelt wirklich unglaublich wortwörtlich.

Nun brennen auch noch meine Arme.

Über meinem Kopf befindet sich eine Falltür. Ich strecke die Hand nach oben und drücke sie gegen den Griff, der sich beeindruckend weich unter meinen Händen anfühlt - nicht kissenweich, eher wie poliertes Holz weich - und drücke.

Die Falltür rührt sich nicht.

Ich unterdrücke den Instinkt zu schreien. Ich werde nicht schreien.

Dann mache ich den Fehler, einen Blick nach unten zu werfen. Eine der schwarzen Gestalten ist aufgetaucht, humpelt, schlittert um die Ecke.

Wo ist Alice?

Mit neuer Kraft stemme ich mich gegen die Falltür, versuche sie dazu zu zwingen, meinem Willen nachzugeben. Ich kann das. Ich bin verdammt stark.

Die Kreatur hat die unterste Sprosse erreicht.

Nun schreie ich doch, aber es ist mehr ein Schrei aus Verzweiflung, oder vielleicht aus Trotz. Tatsächlich aber gibt er mir einen letzten Kraftschub. Die Falltür klappt nach oben auf.

Mit letzter Kraft katapultiere ich mich selbst nach oben, durch die Falltür, achte nicht auf meine Umgebung, sondern strecke mich nur und knalle die Falltür zu, genau in dem Moment, in dem ich glaube, das Kratzen meines Verfolgers auf den Sprossen der Leiter zu hören.

Auf der Falltür ist ein Riegel aus Metall angebracht. Entschlossen ramme ich ihn nach vorne, lasse mich mit meinem ganzen Gewicht auf die hölzerne Klappe fallen und bleibe keuchend darauf liegen.

Stille kehrt ein.

Es dauert einen Moment, bis ich etwas realisiere. Zwar kommt auf diese Weise keine der Gestalten mehr auf diesem Weg aus der Kanalisation heraus ... aber auch sonst niemand. Alice ... Alice muss einen anderen Weg finden. Aber wenn ich hier bleibe, und sie klopft, dann kann ich vielleicht ...

Meine Gliedmaßen zittern. Sie brennen nicht mehr nur, ich bin der festen Überzeugung, dass ich meinen Körper nie wieder von diesem Boden wieder werde hochhieven können. Für einen Augenblick gestatte ich es mir, einfach nur keuchend auf der Falltür gekauert sitzen zu bleiben, meinen pfeifenden Atem im Ohr, Erinnerungen und Gesprächsfetzen, die durch mein Gedächtnis pulsieren.

Ich bin entkommen.

Als mein Puls langsam wieder auf eine Frequenz von 150 sinkt oder ich ihn zumindest so einschätzen würde, erlaube ich mir, wieder etwas durchzuatmen. Der ersten Gefahr bin ich entkommen. Unverletzt und ich lebe noch.

Aber Alice ist ... Alice ist verschwunden. Jessie ist verschwunden und ich weiß nicht, was mit sim passiert ist.

Langsam rolle ich mich auf den Rücken.

Und starre direkt auf Azaths Truhe an der Wand neben mir.

Simsaladjinn - Ein Djinn für alle FälleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt