Kapitel 21

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Aus Annas Perspektive

Bisher habe ich mich sehr wohl gefühlt die Weite und Atmosphäre dieses Dachbodens holt mich total ab. Ich hatte ehrlich gesagt ziemlich Respekt vor der Praxis und ob ich mich da überhaupt auf das Setting einstellen kann. Aber so ist es etwas anderes.

Ich bin stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, mich so in Jans Hände zu begeben. Als Jan seine Hände neben mich gelegt hat, hat sich das komisch angefühlt. Aber so wie jetzt wirkt es ganz natürlich und ich habe das Gefühl, dass ich mehr Bodenhaftung habe. Und das fühlt sich gut an.

Ich spüre Jans Präsenz neben mir. Meine Sinne schärfen sich nach und nach. Dann spüre ich Jans Hand oberhalb meiner Brust. Diese Berührung reicht, um mich direkt wieder in die Situation zu katapultieren. Ich schaue meiner Mutter nach, wie sie das Zimmer verlässt. Der Druck auf meiner Brust ist gewaltig, Ich will nicht weinen, fühle mich aber so alleine gelassen. Jans Hand wandert nun nach unten zu meinen Beinen und gibt Druck. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen und habe das Gefühl, die Situation etwas besser unter Kontrolle zu haben. Meinem inneren Kind von damals beizustehen. Meine Hände beginnen sich wie aus Reflex anzuspannen und wieder zu entspannen. Diese Bewegung löst in mir eine innere Stärke aus. Und ich lasse es zu, dass Jan nun seine Hand sanft auf meinen Hals legt. Ich spüre, dass dies etwas in mir auslöst. Dass ich den festen Kontakt zum Boden brauche und doch habe ich das ganz starke Gefühl nicht alleine in der Situation zu sein, sondern jemanden, nicht Jan sondern eine ältere Version meines Ichs neben mir zu haben, der auf mich aufpasst. Tränen rinnen mir über die Wangen. Geräusche kommen aus meinem Mund, die ich nicht zuordnen kann. Aber es ist mir egal. Es fühlt sich zwar unglaublich anstrengend, aber auch befreiend an. Gerade an diesem Ort zu sein. Die Selbstwirksamkeit, die durch diese Konfrontation in mir entsteht, ist riesig. 

Aus Jans Perspektive

Ich habe diese Form der Trauma Integration schon öfters gemacht. Noch nie hat es so gut und intensiv angeschlagen, wie bei Anna. Ich bin wirklich sehr, sehr positiv überrascht. Sie lässt sich ohne Zögern und mit einer bewundernswerten Ruhe darauf ein. Vielleicht hat es wirklich auch diesen langen Weg und das Zögern gebraucht, damit sie nun bereit ist, diesen Weg einzugehen. 

Als sich die Spannung durch die Tränen und Wortfetzen endlich löst, kann ich förmlich sehen, wie Annas Körper aufatmet. Ich zünde eine Öllampe an, mit einer beruhigenden Mischung. Gleichzeitig gebe ich eine andere Mischung auf meine Fingerspitzen und massiere sanft Annas Kiefer und Gesicht. Sie seufzt leise auf.Ich scheine auf dem richtigen Weg zu sein. Ich betrachte aufmerksam ihren Puls an der Halsschlagader, der sich langsam beruhigt. Ich bin so so stolz auf sie, wie sie das durchgezogen hat!

Schließlich öffnet sie die Augen und lächelt mich strahlend an. Ich erwidere ihr Lächeln. "Danke!", flüstert sie leise. 

"Ich war nur der Türsteher!", ich lächle sie an. 

"Aber du hast mich durchgelassen. Das hätte ich alleine nicht geschafft!"

"Anna, du hast es alleine geschafft, du hast nur jemanden gebraucht, der dich ein bisschen anschubst. Und das habe ich sehr gerne getan! Wie fühlst du dich jetzt?"

"Leicht! Leicht und müde. So könnte ich ewig bleiben!"

"Dann genieße das Gefühl. Wir sprechen später!", kommandiere ich sanft und streiche ihr über die Augen. Anna seufzt leise, dreht sich zur Seite. Kurz darauf wird ihr Atem regelmäßig und ruhig. 

Spaziergang zur inneren Mitte oder Annas GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt