10. Kapitel

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Aus Jans Perspektive

Da ich ein Morgenmensch bin, genieße ich die frühen, kühlen Stunden in denen noch keiner im Retreat etwas von mir möchte. Barfuß laufe ich durch den Kurpark und spüre die kleinen Tautröpfchen an meinen Füßen. Ich sauge die ruhige Stimmung auf und sammele mich. Ich bin gespannt, wie das Zusammentreffen von Anna und Maxi heute Abend wird. Noch gespannter bin ich allerdings auf den Tag morgen mit Fine in Regensburg. Ich habe so einiges mir ihr geplant. Ich trete auf die große Wiese, wo die Yogakurse stattfinden. Die Sonne geht gerade auf und ich genieße diese besondere Atmosphäre. Mein Blick wandert über diesen schönen Zipfel Land als ich etwas Sonderbares entdecke. 

Ich trete näher und tatsächlich sitzt jemand, etwas weiter entfernt, auf einer der Bänke und schaut genauso wie ich dem Sonnenaufgang entgegen. Ich überlege kurz hinzugehen, oder die Person alleine zu lassen. Mein Bauchgefühl sagt mir aber, dass ich zumindest kurz Präsenz zeigen sollte. Ich laufe auf die Person zu und erkenne kurz darauf Annas braunen Haarschopf. Was macht die denn hier draußen. Vorsichtig berühre ich sie an der Schulter. 

"Anna?" Ihre Haut ist eiskalt. Sie reagiert kaum auf meine Ansprache. "Anna!", sage ich nun etwas deutlicher. Ich knie mich vor sie, dirigiere sanft ihr Kinn zu mir, so dass sie mich anschauen muss. Ihr Blick ist ziemlich verhangen. "Anna...", sage ich nun leise. Tränen rinnen aus ihren Augen und die Wangen herab. "Oh Anna!" Vorsichtig nehme ich sie in den Arm. Erst reagiert sie mit Anspannung, bevor sie kurz darauf loslässt. Ich spüre, wie ihre Schultern beben. "Komm, lass uns reingehen!", fordere ich sie sanft auf. Ihre wackligen Beine scheinen sie fast nicht zu tragen. Ich stütze sie und lege einen Arm um sie herum. Stück für Stück scheint sie sich wieder zu fassen. Ich spüre, wie ihre innere Wand wieder nach oben gefahren wird und seufze leise. Wir stehen nun vor der Freitreppe, nach oben zum Speisesaal. Wieder suche ich Annas Blick. 

"Wollen wir in meine Räume gehen?", ich lege ziemlich viel Nachdruck in diese Einladung und sehe wie sehr sie mit sich selbst und dem Gedanken sich mir in einer gewissen Art hinzugeben, ringt. Ich könnte wetten, dass ihr Bauch laut "Ja" schreit, während ihr Kopf energisch dagegen steuert. Ich intensiviere meinen Blick, halte sanft ihr Kinn fest, während ich in ihre Augen blicke. Ich sehe die Antwort schon bevor ich sie aus Annas Mund höre. Mein Herz sinkt. 

Aus Annas Perspektive

Nach meinem Albtraum konnte ich nicht wirklich schlafen und habe mich in die schöne und ruhige Umgebung des Gartens geflüchtet. Es ist zwar wirklich kalt, aber ich habe das Gefühl, dass ich hier zu mir selbst finden kann. Ich tapse barfuß durch das Morgengrauen, bevor ich mich auf einer Bank niederlasse. Ich spüre, wie mein Atem endlich zur Ruhe kommt. Mein Puls wird langsamer. Ich lasse meinen Blick schweifen und gestehe mir einfach zu im Hier und Jetzt zu sein. 

Als Jan zu mir tritt, erlebe ich das nicht als Überraschung. Es ist ja immerhin seine Anlage, oder die, die er für seine Zwecke nutzt. Irgendwie fühlt es sich so an, als sollte es so  sein. Ich gehe gemeinsam mit ihm zurück zum Haus. Die kühle Luft ist angenehm auf meiner Haut. Umso näher wir allerdings dem Haus kommen, umso mehr übernimmt nicht mehr mein Bauch, sondern mein Kopf die Kontrolle. Ich weiß genau, dass jetzt die Chance wäre, mit Jan meine Baustellen anzugehen. Wie gerne würde ich jetzt einfach meinen Kopf ausschalten und nur meinem Bauchgefühl vertrauen. Aber kann ich das wirklich schaffen?

Spaziergang zur inneren Mitte oder Annas GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt