9. Kapitel

1.3K 76 19
                                    

Triggerwarnung: In diesem Kapitel geht es um die Kernproblematik von Annas Trauma. Auch wenn es kein bewusster Missbrauch der ausführenden Person war, fühlte es sich für Anna sicher so an. Wenn du dich von diesem Thema getriggert fühlst, ist dieses Kapitel nichts für dich.

Aus Fines Perspektive

Ich bin so gespannt, was Jan mit mir vorhat und freue mich wie Bolle auf einen Tag nur mit ihm alleine. Ohne medizinische Themen. Einfach nur er und ich. Regensburg kenne ich bisher nur von meinen Aufenthalten in der Uniklinik dort, aber es soll sehr schön sein dort.

"Das heißt wir fahren morgens früh los und kommen dann Abends nach dem Essen wieder zurück?", ich schaue Jan fragend an.

"Ja, genau." Er lächelt mich an. "Es ist schön zu sehen, wie sehr du dich darauf freust. Das letzte Mal ist schon eine Weile her, nicht?"

"Definitiv!", sage ich bestimmt. "Hast du das Gefühl, dass Anna sich dir gegenüber öffnen könnte?" Ich schaue Jan nachdenklich an.

"Hm. Ich hoffe es. Aber ich will und kann das nicht forcieren."

"Ich würde es ihr einfach so sehr wünschen!" ich seufze leise. "Was auch immer sie da für ein Päckchen mit sich herumträgt..."

"Ich glaube dass das sogar relativ gut gelöst werden könnte. Ich würde mit ihr mit dem SE - Ansatz arbeiten. Das würde ideal passen. Aber du weißt ja, dass das eine große Vertrauensbasis erfordert zwischen Behandler und Empfänger und solange das nicht da ist, brauche ich gar nicht anfangen."

"Ja, das stimmt wohl. Zäpfchen?" Ich schaue Jan hoffnungsvoll an. Er lacht leise auf.

"Du und dein Helfersyndrom. Aber nein. Bei dieser Technik bringen die Zäpfchen leider gar nichts. Sie würde nur wegdriften und ich kann keinen Anker legen. Nun lass uns aber auf uns selbst konzentrieren, ja?" Ich lächle Fine vieldeutig an.

Sie lächelt etwas scheu zurück: Playtime!

Aus Annas Perspektive (Triggerwarnung)

Nach dem sehr vergnüglichen Abendessen rolle ich mehr oder weniger ins Bett. Mein Kopf summt angenehm - bei einem Glas Wein ist es nicht geblieben. Ich lasse die Kleider einfach auf den Boden fallen, putze mir mehr oder weniger sorgfältig die Zähne und kuschle mich direkt ins Bett. Ich schreibe Timo noch ein kurzes Lebenszeichen, bevor ich das Handy nun ausschalte. Die nächsten Tage möchte ich mich einfach auf mich konzentrieren. Im Notfall weiß er ja, wie er mich erreichen kann.

Ich drehe mich auf den Bauch und schiebe das Kissen weg. Himmlisch. Ich mache mir noch ein paar schöne Gedanken, bevor ich selig weg döse.

Gefühlte Sekunden später, wache ich völlig verschwitzt wieder auf. Ein, beziehungsweise mein Albtraum hat mich wieder einmal geweckt. Ich strample die Decke weg. Mir ist flau. Schnell sprinte ich in das kleine Badezimmer und übergebe mich. Völlig fertig sitze ich auf dem Boden des Badezimmers und umfasse meine Beine mit den Armen. Ich wiege mich sanft vor- und zurück. Vor- und zurück. Fetzen meines Traumes tauchen auf und verschwinden wieder. War ja klar, dass dieser Traum sich ausgerechnet hier- und jetzt wieder meldet. Ich versuche die Bilder energisch wegzuschieben und doch kommen die Gefühle wieder nach oben. Ich, als 6-jähriges Mädchen, ausgesetzt diesem Arzt. Ich höre meine Gedanken, als wäre es gestern gewesen:

"Ich will das nicht. Er soll nicht in meinen Hals schauen. Das tut weh und dann muss ich wieder diesen blöden Saft nehmen. Der schmeckt eklig. Ich weiß, dass du mich gleich auch noch piksen wirst. Ich mach da nicht mehr mit."

Ich war ein willensstarkes Mädchen gewesen - Timo würde wohl sagen, dass ich das auch immer noch bin. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht mehr zu kooperieren. Meine kleine Ärmchen waren um mich herum verschränkt und bildeten einen Schutzpanzer.

Meine Mutter wurde gebeten, das Zimmer zu verlassen. Nach einem kurzen Blick zu mir, was sollte diese Scheinheiligkeit, fragte ich mich, ließ sie mich tatsächlich alleine. Ich war nun in Schockstarre diesem Mann ausgeliefert. Mit festem Griff fasste er mir an den Kiefer. Ohne ein Wort zu sagen, wurde mein Mund aufgezwungen und meine Zunge energisch heruntergedrückt. Ich hätte schreien können. War jedoch zu nichts fähig. Ich hörte nur ein Brummen von seiner Seite. Meine Zähne klapperten, als ich meinen Mund endlich wieder schließen durfte.

Ich wollte nicht, dass er wieder in meinen Hals schaut. Es tut weh. Ich würde wieder Medikamente bekommen, die widerlich schmeckten und dann würde er auch noch Blut abnehmen. So wie jedes Mal. . Meine Mutter, die mich trotz meines Protests alleine gelassen hatte und dann erinnere ich mich nur noch an meine pendelnden Beine auf der Liege, ein sehr sonderbares, schales Gefühl und Stille. Wieder dreht sich mein Magen um. Ich beuge mich über die Toilette. Doch es kommt nichts mehr. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich schluchze und rolle mich auf dem kleinen Badezimmerteppich zusammen. Ich fühle mich so alleine und verlassen - wie das 6-jährige Mädchen von damals.





Spaziergang zur inneren Mitte oder Annas GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt