»Los, komm, beeil dich«, drängte Kilian. Den ganzen Vormittag verhielt er sich bereits so merkwürdig.
»Ich komme ja schon«, rief Marie zurück, während sie schnell in ihre Turnschuhe schlüpfte und sich eine Jacke überzog.
»Was ist denn so wichtig?«
»Erzähl ich dir später. Es ist eine Überraschung«, redete sich Kilian heraus, als er die Haustür hinter sich zusperrte.Gemeinsam liefen sie die Straße in dem kleinen und beschaulichen Ort entlang und sprachen über die Schule, Gott und die Welt. Bei ihrem Bruder konnte Marie jederzeit ihren Frust über die Lehrer ablassen. Er verstand sie. Er ermutigte sie. Er tröstete sie. Nach dem Ortsschild bogen sie nach rechts auf einen Feldweg, der zum Wald führte. Als Kind hatten sie sich dort schon oft die Zeit vertrieben. Marie schwelgte in den Erinnerungen an alles, was sie hier schon erlebten. Das Versteckenspielen, auf Bäumen herumkraxeln oder aus herumliegenden Ästen was Schönes bauen. Marie lächelte vor sich hinträumend, bis sie nach einiger Zeit aus ihrer Erinnerung zurück in die Realität kam.
»Was wollen wir hier?«, platzte Marie vor Ungeduld und Neugier.
»Wart's einfach ab«, vertröstete sie ihr Bruder.
»Ich halte es nicht länger aus.«
»Ja, ich weiß. Bleib einfach kurz hier stehen«, bat Kilian, bevor er im Wald verschwand.
Was hat er nur wieder vor? Der heckt doch irgendwas aus.Nachdem sie für einen Moment alleine war, blickte sie gedankenverloren wieder über die Wiesen in den strahlendblauen Himmel. Es war ein schöner Tag. Die Sonne erhellte den Wald und erwärmte ihren Körper durch die Jacke. Es war zwar erst Mitte Januar, aber die Sonne hatte bereits eine enorme Kraft und schmolz die wenigen, kleinen Schneehaufen am Straßenrand. Marie schloss ihre Augen und genoss den Moment.
Einige Augenblicke später schlich Kilian sich von hinten bei Marie an, woraufhin sie einen kurzen Schrei gen Himmel losließ. Als sie sich umdrehte, um ihn für das Erschrecken zu schimpfen, erkannte sie noch eine weitere Person. Jasmin stand neben Kilian und beide riefen gleichzeitig »Alles Gute zum Geburtstag«. Sofort war der ganze Ärger verschwunden. Marie war überwältigt.
Sie hat wirklich dran gedacht.»Ich weiß, dein Geburtstag war gestern, aber heute am Samstag hat es sich als besserer Tag für diese Überraschung herausgestellt«, erklärte Jasmin.
Hinter ihrem Rücken zog sie einen in Geschenkpapier gewickelten quaderförmigen Gegenstand hervor und überreichte ihn Marie, welche das Geschenk annahm und von allen Seiten begutachtete.
»Los, mach auf!«, forderte Jasmin sie gespannt auf.
Vorsichtig löste Marie die Klebestreifen von dem Papier ab, woraufhin die Enden aufsprangen. Marie wickelte das Geschenk einmal um die eigene Achse auf und ihr Blick fiel auf ein Buch. Das Cover zeigte verschiedene Formen, die sich zu einem zusammenhängenden Muster formten. Die blaue Farbe verlief optisch vom oberen Bildrand und wurde nach unten hin immer heller. Am rechten Rand war ein Gummiband, das sich farblich dem zarten blauen Hintergrund anschmiegte, befestigt. Zentriert in der oberen Hälfte zierte der Titel Notizen in kursiver, goldfarbener Schrift das Buch.
»Es ist ein Erfolgsbuch«, erläuterte Jasmin, »naja, eigentlich ist es nur ein leeres Notizbuch. Aber die Idee war, dass du hierein alle deine Erfolge schreiben kannst.«
»Zum Beispiel dein Referat«, ergänzte Kilian.
Jasmin händigte ihr nun noch einen silberschimmernden Kugelschreiber mit der Aufschrift Vertrau in dich selbst aus.
»Gefällt's dir?«
Marie nickte lächelnd.
»Lasst uns in die Holzhütte gehen«, schlug Kilian vor. »Dort kannst du dann deinen ersten Eintrag schreiben.«Sie gingen in den Wald hinein, wo etwas abseits vom Weg ein kleines Häuschen stand. Drinnen machten sie es sich auf dem Boden gemütlich. Marie setzte sich im Schneidersitz in die Ecke, wo sie als Kind schon immer saß, mit dem Buch vor sich auf ihren Beinen und dem Stift in der rechten Hand.
Ein Erfolgsbuch also. Wie schreibt man ein Erfolgsbuch? Ich kann doch nicht einfach ›Referat‹ schreiben. Wie fange ich überhaupt an?
Mehrere Minuten lang starrte Marie hilflos auf die leere Seite des geöffneten Buches. Mittlerweile unterbrachen Jasmin und Kilian ihr Gespräch und rutschten etwas näher an Marie.
»Du hast ja noch gar nichts aufgeschrieben«, stellte Jasmin beim Blick auf das Buch fest.
»Ich weiß ja auch nicht, was ich schreiben soll«, erklärte sich Marie.
»Über alles, was du nie gedacht hättest, es jemals zu schaffen.«
»Aber wie soll ich anfangen?«
Die Verzweiflung stand Marie ins Gesicht geschrieben.
»Gib mal her«, meinte Jasmin und Marie reichte ihr das Buch und den Stift.
Sie begann sofort, etwas aufzuschreiben und sprach dabei ihre Gedanken laut mit.
»Jetzt schau mal. Hier trägst du zum Beispiel das Datum ein, wann du etwas geschafft hast. Da kannst du in einem oder wenigen Worten kurz zusammenfassen, was es ist, etwa ›Referat in Deutsch‹. Dann beschreibst du, wie es dir dabei ging, also davor, während dem Referat, als du es abgegeben hast und so weiter. Es gibt kein richtig oder falsch. Du kannst so viel oder so wenig schreiben, wie du willst.«Jasmin gab Marie das Buch und den Stift zurück und rückte wieder etwas von ihr weg, damit sie sich in Ruhe auf das Schreiben konzentrieren konnte. Marie schaute auf die erste Seite des nun nicht mehr leeren Buches und füllte die Lücken, die Jasmin offengelassen hat.
Datum: 15. Januar
Erfolg 1: Deutschreferat
Vor dem Referat:
Während dem Referat:
Nach dem Referat:
Bei den letzten drei Fragen tat sich Marie ziemlich schwer. Sie hatte sich noch nie richtig mit ihren Gefühlen innerhalb der Blockade auseinandergesetzt. Doch als sie einmal im Schreibfluss war, lief es ihr zunehmend leichter von der Hand. Am Ende fielen ihr sogar noch weitere Erfolgserlebnisse ein, die sie ebenfalls in ihrem neuen Buch festhielt.Nach einer gefühlten Ewigkeit klappte Marie das Buch erleichtert zu.
»Ich bin fertig.«
Jasmin und Kilian drehten sich fast gleichzeitig um und rückten wieder näher an Marie. Sie verbrachten noch eine schöne Zeit gemeinsam, ehe sie sich schließlich, bevor es dunkel wurde, auf den Weg nach Hause machten.
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Schweigen - Aufbruch
Genç KurguMarie kann nicht immer sprechen. Von klein auf hatte sie nur wenige Freunde; saß im Kindergarten oder in der Grundschule meist alleine zurückgezogen in einer Ecke. Anfangs wurde es als Schüchternheit abgetan und ignoriert. Doch es änderte sich nich...