Das ganze Wochenende über hatte Marie kein Auge zugemacht. Ständig wachte sie nachts auf und war am Morgen schweißgebadet. Nach dem Aufstehen ging sie sofort ins Bad, um sich gründlich zu waschen. Ausnahmsweise duschte sie heute morgens. Das tat sie normalerweise nie, doch durch diese von Albträumen geplagte Nacht, fühlte sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Sie ließ das lauwarme Wasser von oben auf sie herabprasseln. Mit jedem Strahl wusch sie neben ihrer Körperoberfläche auch die negativen Gedanken aus ihrem Kopf heraus, bis sie sich am Ende wieder wohlfühlte in ihrer Haut. Bevor sie aus der Dusche stieg, ließ sie kurz eiskaltes Wasser über sich ergießen. Während die Kälte sich auf ihrem Körper ausbreitete, standen ihre Gedanken still. Der Kopf war leer. Sie konzentrierte sich nur auf das kühle Nass.
Perfekt.
Anschließend zog sie sich frische Klamotten aus dem Kleiderschrank an.
Wenn ich heute nach Hause komme, sind sie zwar sowieso schweißdurchtränkt.
Auf dem ganzen Weg zur Schule dachte Marie wieder nur an das Referat, das sie heute abgeben musste. Die Gedanken trieben sie in den Wahnsinn.
Was, wenn es nicht gut genug ist? Was werden die anderen denken, wenn ich nur einen Zettel abgebe? Was, wenn Fehler auf dem Handout sind?
Obwohl Marie seit der ersten Klasse keine Rechtschreibfehler machte, in Schulaufgaben die Höchstpunktzahl erreichte und die anderen weniger auf Fehlerfreiheit achteten als sie, spann sie sich die verrücktesten Dinge zusammen, wie die anderen Schüler penibel auf jedes noch so kleine Wort achten würden, einfach weil es Marie war.»Ist das dein Handout?«, fragte Jasmin neugierig am Beginn der Stunde.
»Darf ich sehen?«
Sie bewegte ihre Hand in Richtung des Zettels. Marie zog daraufhin reflexartig das Blatt weg. Sie spürte schon wieder, wie ihr Herz anfing heftiger zu pochen.
Warum passiert das immer?
»Komm schon. Es ist immerhin auch mein Referat«, setzte Jasmin fort.
Marie schob vorsichtig die Seite zu Jasmin.
»Danke.«
Jasmin nahm den Zettel in die Hand und las ihn sich durch.
Hoffentlich passt alles. Wieso sagt sie nichts? Bestimmt ist es kompletter Unsinn, was ich geschrieben hab.
Marie fühlte ihren Herzschlag in der Brust.
Einatmen, ausatmen.Am Ende der Stunde wartete Marie, bis alle den Raum verlassen hatten, um ihren Teil des Referats bei der Lehrerin abzugeben. Sie packte extra langsam ihre Sachen ein, damit sie als Einzige im Biologiesaal war. So konnte sie ungestört das Referat bei Frau Hammer abgeben. Sie versuchte diese Dinge immer so gut wie es ging auf nach den Unterricht zu schieben. Sie mochte es nicht, wenn andere davon Wind bekämen, was sie mit den Lehrern besprach. Zu groß war ihre Angst vor Nachfragen von Mitschülern oder schlimmer Gerüchten, die von ihnen hätten in die Welt gesetzt werden können.
Marie nahm ihren USB-Stick und den Handzettel, die sie beim Zusammenpacken bereits auf dem Tisch abgelegt hatte, und ging nach vorne auf das Pult der Lehrerin zu.
Hab ich wirklich alles bis auf das Referat gelöscht? Was, wenn Dateien, die ich gelöscht habe, von selbst zurückgekommen sind? Ach, Quatsch, das geht nicht. Und wenn schon, dann ist es ja auch nur das Referat in Deutsch. ... Aber was, wenn ich doch was übersehen hab?
»Ah, Marie, das ist ja schön, dass das geklappt hat«, kam ihr Frau Hammer einen Schritt entgegen und nahm ihr den USB-Stick und das Handout für die Klasse ab.
»Das sieht schon mal gut aus«, warf die Lehrerin einen ersten Blick auf das Blatt.
»Das Referat ist bestimmt genauso gut geworden. Ich freue mich schon darauf, es mir anzuschauen«, lächelte sie Marie kurz an und verstaute alles in ihrer Tasche.
Marie erwiderte das Lächeln und wartete ein paar Sekunden, ehe sie schließlich von Frau Hammer das Signal bekam, den Raum zu verlassen. Sie begab sich ohne weitere Verzögerungen direkt auf den Weg in das Klassenzimmer.
Oh mein Gott, ich hab es tatsächlich getan. Ich kann es nicht mehr ändern.Die Zeit bis Freitag zog sich ewig und rannte gleichzeitig im Galopp davon.
***
Marie sah hinauf zur Uhr im Klassenzimmer, die neben der Tafel hing und verfolgte den Sekundenzeiger, wie er seine Runden auf dem Ziffernblatt drehte. Nach dieser Stunde war Biologie. Es war keine normale Stunde gewesen. Es war der Tag des Referats, des gemeinsamen Referats, dessen Teil Marie bereits vorab abgegeben hatte. Verschiedene Gedanken durchquerten ihren Kopf.
Jetzt muss sie da alleine vorne stehen und es als einzige in der Klasse alleine vortragen, weil ich zu blöd bin, vor der Klasse zu sprechen. Was bin ich nur für eine Freundin? Oh Gott, wie das schon klingt, ›Freundin‹. Das sind wir doch gar nicht. Ich habe keine Freunde. Wer will schon mit jemandem wie mir befreundet sein? Auch Jasmin wird das noch irgendwann begreifen und mich stehen lassen.Die Schulklingel, die die vorangegangene Deutschstunde beendete, riss Marie aus ihren Gedanken und ohne, dass sie irgendeinen Einfluss darauf nehmen hätte können, begann ihr Herz zu rasen. Die Kehle schnürte es ihr zu, der Atem stockte, als Frau Hammer durch die Tür schritt. Ihr Blick fiel auf die Tasche, die die Lehrerin bei sich hatte. In dieser war das Handout von Maries Teil des Referats, den die Klasse heute bekommen sollte.
Es gibt kein Zurück mehr. Der Zettel wird ausgeteilt werden und alle werden es lesen. Jedes Wort. Meine Worte.
Marie schluckte.Sie war so mit ihren Ängsten beschäftigt, dass sie nicht mitbekam, wie Jasmin ihr Referat vorbereitete. Erst als sie aufstand, kam sie langsam zurück in die Realität.
»Kommst du?«
Marie folgte ihr still nach vorne. Jasmin steckte den mitgebrachten USB-Stick in den Schulcomputer auf dem Pult und öffnete die Präsentation. Es dauerte eine Weile, bis alles geladen hatte.
»Du weißt ja, wann du weiterklicken musst. Falls nicht, schau einfach zu mir.«
Jasmin stellte sich in die Mitte vor die Tafel, so, dass sie nicht die Leinwand verdeckte. Marie nahm derweil auf dem Stuhl Platz. Als sie dort saß, mit Blickrichtung zur Klasse, wurde ihr mulmig. Ein ungewohntes Gefühl durchstreifte ihren Körper.
So sieht es also von der anderen Seite aus.
Marie versuchte, die Blicke der Mitschüler zu ignorieren und fixierte daraufhin den Bildschirm. Kurz wich sie immer wieder davon ab, um Jasmin anzuschauen, die ihr Zeichen gab und bestätigte, auf die nächste Folie weiterzuklicken.Etwas mehr als fünf Minuten dauerte das Referat. Minuten, in denen Marie den Blicken der Klassenkameraden nicht standhalten konnte. Minuten, in denen ihr Herz gegen die Brust hämmerte, obwohl sie nichts sagen musste, obwohl die Klasse Jasmin zuhörte.
»Das war es von meiner Seite. Marie wird euch jetzt noch ihren Teil austeilen.«
Sie nahm den Stapel Papier, der auf dem Pult lag und übergab ihn Marie. Dabei flüsterte sie ihr zu: »Du schaffst das.«
Mit pochendem Herzen und dem Gefühl, es würde ihr gleich etwas Peinliches passieren – wie etwa, dass sie über eine der vielen Schultaschen stolpert –, begann Marie schließlich jedem Schüler ein Blatt zu geben.
»Gibt es noch Fragen?«, beendete währenddessen Jasmin das Referat.
Nachdem sich niemand gemeldet hatte, stand Frau Hammer von ihrem Stuhl auf und kam wieder nach vorne. Jasmin zog den USB-Stick ab und ging zurück an ihren Platz. Die Lehrerin fuhr indessen mit dem Unterricht fort.
Ich hab noch die vier Reihen am Fenster. Jetzt muss ich hier rumlaufen, während alle sich auf den Unterricht konzentrieren wollen. Sie schauen mich bestimmt schon an. Hätte ich nicht schneller austeilen können? Nichts bekomme ich hin.»Das haben wir doch gut hinbekommen«, stellte Jasmin fest, nachdem Marie wieder auf ihrem gewohnten Platz saß.
»Hast du eigentlich dieses Referat schon in dein Erfolgsbuch eingetragen?«, wechselte sie das Thema.
Sie wartete einen Augenblick, ehe sie weitersprach.
»Du schreibst aber schon regelmäßig da rein? Wir haben das nicht umsonst für dich ausgesucht, sondern weil wir fest davon überzeugt sind, dass dir das helfen wird, wenn du deine Erfolge aufschreibst. Vielleicht hast du mal eine Phase, in der es dir schlecht geht. Dann kannst du das, hoffentlich bis dahin volle, Notizbuch mit all deinen bisherigen Erfolgen rausholen und dich daran erinnern, was du schon alles erreicht hast.«
Marie lächelte leicht als Bestätigung auf Jasmins Monolog.
DU LIEST GERADE
Schweigen - Aufbruch
Teen FictionMarie kann nicht immer sprechen. Von klein auf hatte sie nur wenige Freunde; saß im Kindergarten oder in der Grundschule meist alleine zurückgezogen in einer Ecke. Anfangs wurde es als Schüchternheit abgetan und ignoriert. Doch es änderte sich nich...