Kapitel 1.17 - Das Deutschreferat

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Marie wachte auf und spürte ein Kribbeln im Bauch. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgestellt – oder noch besser vor, um die Abgabe bereits hinter sich zu haben. Trotz des mulmigen Gefühls stand sie schließlich auf und versuchte zu frühstücken. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, da jedes Wort darüber es nur schlimmer gemacht hätte. Allerdings hatte sie durchaus zu kämpfen mit dem Frühstück. Kaum einen Bissen bekam sie hinunter, schlucken fiel ihr schwer.
Als sie ihr Frühstück endlich aufgegessen hatte, schleppte sie sich ins Bad zum Waschen und anschließend in ihr Zimmer zum Anziehen. Jede verstreichende Minute brachte sie näher an die Abgabe des Referats und verstärkte das flaue Gefühl in der Magengegend.
Vielleicht sollte ich doch einfach zuhause bleiben.
Nein, das geht nicht, dann wird es später noch schlimmer. Die einzige Alternative wäre, dass ich tot bin. 
Marie stoppte in ihrer Bewegung, sich die Haare zu kämmen und erstarrte beim Blick in den Spiegel. 
Nein, das geht nicht. 

Die dritte Stunde war die, nach der sie das Referat abgeben musste. Einerseits war sie froh darüber, dass es erst in der dritten Stunde war, andererseits war es aber auch erst in der dritten Stunde. Mit jeder vergangenen Schulstunde, jeder vergehenden Minute, erhöhte sich die Anspannung und der Druck auf den Magen wurde größer. Die ersten beiden Stunden an diesem Tag waren quasi verlorene Stunden für Marie, denn konzentrieren konnte sie sich jedenfalls nicht. Auch in der Pause schaffte sie es nur mühsam, ihr Brot zu essen. Bei jedem Bissen musste sie aufpassen, dass ihr nicht schlecht wurde und sie sich übergeben musste. 

Die Klingel beendete die Pause zur dritten Stunde. Am liebsten wollte Marie jetzt unsichtbar werden wie der Pumuckl.
Vielleicht kommt sie ja nicht.
Etwas Hoffnung breitete sich in Marie aus, während sie gemeinsam mit Jasmin zum Klassenzimmer ging. Die Hoffnung schlug allerdings schnell in Angst um.
Aber wenn sie nicht kommt, muss ich das Referat im Lehrerzimmer oder Sekretariat abgeben. ... Nein, sie muss kommen.
Im nächsten Moment trat Frau Mertens auch schon um die Ecke und sperrte das Klassenzimmer auf. Doch zu Maries Verwunderung begann diese sogleich mit dem Unterricht. Auf ihre anfängliche Erleichterung folgten allerdings schnell die verunsichernden Gedanken.
Hat sie es etwa vergessen? War das Referat überhaupt heute? Ich kann mich doch auch im Datum geirrt haben. Ganz bestimmt hab ich mich im Datum vertan. Nein, es war heute. Wann soll ich es abgeben? Was, wenn sie nach der Stunde sofort geht? Kann ich sie aufhalten? Was, wenn ich es nach der Stunde nicht abgebe? Gibt sie mir noch eine Chance oder gleich eine Sechs? 

Nachdem am Ende der Stunde, in der Marie mit den Gedanken überall war außer beim Thema, die anderen auf dem Weg nach draußen waren, kam Frau Mertens auf Marie zu.
»Na, Marie? Heute ist dein Tag. Hast du es dabei?«
Marie stand zögernd sowie verunsichert an ihrem Platz. Als Jasmin bemerkte, dass Marie Probleme hatte, das Referat abzugeben, kam sie langsam wieder zurück. Frau Mertens richtete sodann das Wort an sie.
»Marie kann gerade nicht auf mich reagieren. Wie wär's, wenn ihr beide das vielleicht untereinander klärt?«
Jasmin zog Marie daraufhin ein Stück nach hinten, weg von der Lehrerin, und hakte besorgt nach: »Was ist los? Du hast es doch dabei, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher«, flüsterte Marie ihr ins Ohr.
»Was meinst du?«, entgegnete Jasmin ebenso leise und schaute Marie dabei fragend an.
»Ich will nicht, dass jemand aus der Klasse es sieht«, wisperte Marie weiter.
»Wieso sollten sie?«
Jasmin war etwas verwundert.
»Aber ich kann das natürlich gerne für dich klären.«
Jasmin schilderte Frau Mertens die Situation und diese versicherte Marie, dass niemand außer ihr das Video sehen würde. Zögerlich mit zitternden Händen händigte Marie ihr schließlich den USB-Stick aus.
»Danke.«
Die Lehrerin nahm ihn an sich, griff ihre Tasche und verschwand aus dem Raum. 

Gemeinsam verließen Marie und Jasmin daraufhin auch das Klassenzimmer, um die verbleibende Zeit der Pause zu genießen. Ein bisschen begleitete Marie das mulmige Gefühl aber trotzdem noch.
War es wirklich die richtige Entscheidung? Jetzt gibt es kein Zurück mehr. 

Den restlichen Tag und auch an den folgenden Tagen begleiteten Marie die Gedanken, wie ihr Referat wohl ankam.
War es gut genug? Hab ich etwas Falsches gesagt? Stimmen die Informationen? Wann werde ich das Ergebnis bekommen?
Als sie sich vorstellte, wie die Lehrerin vor dem PC sitzen und sich haarklein alle Details des Videos ansehen würde, lief ihr kurz ein kalter Schauer über den Rücken.
Es war so vieles, worüber sie sich den Kopf zerbrach. Völlig grundlos, wie ihr am folgenden Freitag mal wieder klar wurde. 

Bevor Frau Mertens mit dem Unterricht begann, legte sie Marie einen Zettel und den USB-Stick auf den Tisch. Ohne genaueres Hinsehen wusste Marie sofort, was dieser Zettel bedeutete. Es war der Beurteilungsbogen für ihr Referat. Sie legte das Blatt, ohne es sich genauer durchzulesen, in ihr Heft und schloss dieses.
Dies hatte zwei Gründe. Zum einen wollte sie sich auf den Unterricht konzentrieren, zum anderen hatte sie Angst, dass die Bewertungen vielleicht nur negativ gewesen wären. Sie zwang ihren Kopf die ganze Stunde hinweg, Ersteres zu denken.
Zuhause schau ich es mir an. 

Nach der Stunde wollte Jasmin die Note wissen. Marie zögerte zuerst. Nachdem Jasmin noch ein paar Mal hartnäckig, aber lieb gefragt hatte, zog Marie den Bewertungsbogen schließlich vorsichtig hervor, jedoch bloß so weit, dass Jasmin nur die Note sehen konnte.
»Eine Zwei? Ist doch super!«, beglückwünschte Jasmin sie.
Marie sah sie an und lächelte. 
Bestimmt hatte sie nur Mitleid mit mir. Ich hab die Zwei doch nicht verdient. 

Zuhause las sich Marie die Beurteilungen ganz genau durch.
›Frei Sprechen 3 von 5 Punkten‹, ›Einsatz von Medien 5 von 5 Punkten‹, ›Sprache 2 von 5 Punkten‹.
Das Muster zog sich durch alle Bemerkungen. Alles, was die verbale Vortragsweise betraf, wurde mit zwei oder drei Punkten bewertet. Die restlichen Bereiche waren fast durchweg fünf Punkte. Mit diesem Ergebnis hatte Marie aber schon gerechnet. Dafür, dass es ihr erstes mündlich vorgetragenes Referat war, war sie jedoch ganz zufrieden damit. Es gab ihr sogar so viel Selbstvertrauen, dass sie es kaum erwarten konnte, das nächste Referat zu halten. Im Rückblick mochte es Marie auf eine gewisse Weise auch, dort vorne zustehen und etwas vorzutragen. Nur die vorhergehende Recherchearbeit fand sie mühsam. 

»Und wie sieht's aus?«, ploppte plötzlich eine Nachricht auf dem Handydisplay auf.
Sie war von Jasmin und Marie wusste gleich, worauf sie hinauswollte.
»Ganz gut«, schrieb sie zurück.
»Kann ich sehen?«, antwortete Jasmin.
Marie überlegte etwas länger.
Soll ich? ... Wieso sollte ich? Es geht sie doch nichts an. Es ist schließlich meine Note. Naja, andererseits war sie beim Referat dabei und ohne sie hätte ich es vermutlich nie geschafft. Wahrscheinlich kann sie es sich eh denken...
Marie fotografierte also den Beurteilungsbogen und sendete ihn an Jasmin.
»Das sieht doch hervorragend aus«, kam nach einer Weile als Antwort zurück. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt