Kapitel 1.24 - Allein gelassen

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»Schönen guten Tag«, begann Frau Peters mit dem Unterricht. 

Schön war an diesem Tag allerdings nicht viel für Marie. 

*** 

Jasmin fühlte sich nicht so gut und ließ sich in der zweiten Stunde vom Unterricht befreien. Zu allem Überfluss wurde Marie dann auch noch in Englisch abgefragt. Frau Kalthoff zeigte keinerlei Verständnis für Maries Schweigen. Nur durch ihre sehr guten schriftlichen Leistungen konnte sie die Zwei im Zeugnis halten, bis jetzt zumindest. Die Lehrerin stellte die erste Frage und noch eine weitere.
Kann ich das schriftlich machen? Vielleicht, wenn ich meinen Block raushole, merkt sie es. Sie starren mich schon an. Wenn ich jetzt in meinem Rucksack suche, raschelt es und sie drehen sich erst recht zu mir um.
Marie erstarrte an ihrem Platz. Wie eine Statue saß sie auf dem Stuhl. Die Füße waren über Kreuz nach hinten geschlagen. Die Arme lagen im rechten Winkel zur Tischkante nach vorne ausgebreitet auf dem Tisch. In den Händen hielt sie das Anhängsel an ihrem Federmäppchen, mit dem sie unauffällig spielte. Kaum merklich bewegte sie ihren Kopf und richtete ihre Augen auf den leeren Platz von Jasmin.
Wenn sie jetzt da wäre... 

Als von Marie nach mehrmaligem Aufruf keine Reaktion kam, kritzelte die Lehrerin in ihrem Buch und wählte daraufhin Celina für die Abfrage aus. Wenn diese bei einer Frage ins Straucheln geriet, die Marie gewusst hatte, musste sie aufpassen, möglichst neutral zu bleiben. Es war zwar nicht so, dass sie je eine große Mimik in den Tag gelegt hatte, aber bereits die kleinste Bewegung ihrer Gesichtsmuskeln konnte falsch gedeutet werden. Besonders bei Celina musste sie aufpassen. Eine falsche Bewegung, ein Lächeln zum falschen Zeitpunkt, konnte jederzeit ausgenutzt werden für abfällige Bemerkungen.
Ich wüsste es. Jetzt bloß nicht zu ihr rüber schauen. Nur nicht den Mund auf irgendeine Weise bewegen, sonst denken sie wieder, ich würde sie auslachen. Wieso juckt mein Mund jetzt? Ich müsste auch mal schlucken. Egal, das muss warten. Bloß keine Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Ihr Gesicht wurde immer heißer, sie spürte schon die Schweißflecken an den üblichen Stellen wachsen und die sommerlichen Temperaturen draußen verbunden mit einem Südseitenklassenzimmer taten ihr Übriges. 

In der Pause schlich Marie zu ihrem angestammten Platz in der Nähe des Klassenzimmers. Das Gebäude war insgesamt sehr lichtdurchflutet durch die großen Seitenfenster. In einer Ecke stand eine Bank, auf der Marie, wann immer sie frei war, saß. Sonst immer mit Jasmin, heute allein. Vor der Sitzgelegenheit waren Pflanzen positioniert. Sie dienten wohl als Abgrenzung vom großen Eingangsbereich. Für Marie bot es die perfekte Ruhe vor der Massenansammlung an Schülern, die sich im Pausenbereich aufhielten. Genüsslich biss sie von ihrem Pausenbrot ab, als sie aus dem Augenwinkel heraus Celina und ihre Clique sah.
Einfach weiteressen. Es interessiert mich nicht, was die machen.
Anhand der Mundbewegungen folgerte Marie, dass sie sich über irgendetwas unterhielten. Über was genau sie tratschten, konnte sie allerdings nicht verstehen. Zu laut war die Umgebung und zu weit weg stand die Gruppe.
Nach einiger Zeit, was Marie als das Ende der Pause vermutete, da sie schon eine ganze Weile auf der Bank saß und das Brot mittlerweile aufgegessen hatte, verließ die Gruppe um Celina ihren Standort und bewegte sich auf Marie zu. Unbewusst rutschte Marie ein Stückchen nach rechts, um den freien Platz neben sich zu vergrößern. 

»Warum so traurig?«, sprach Celina sie an und der Sarkasmus in ihren Worten war nicht zu überhören.
Ich schaue doch ganz normal.
»Was war denn vorhin in Englisch los?«
Celina überspielte ihre zugrundeliegende Boshaftigkeit gekonnt mit falscher Einfühlsamkeit.
Lass mich doch einfach in Ruhe.
»Hat dich deine kleine Freundin heute einfach im Stich gelassen? Naja, früher oder später wird sie sowieso merken, dass du nichts taugst. Wobei, sie taugt ja selbst nichts.«
Mit jedem Wort wurde sie gehässiger und herablassender.
»Ihr braucht beide Sonderregelungen, weil ihr sonst die Schule nicht schaffen würdet.«
Marie senkte ihren Kopf. Sie konnte Celina oder einem anderen aus der Clique nicht länger in die Augen schauen. Sie blinzelte etwas schneller, um aufkommende Tränen im Keim zu ersticken. Sie durften das jetzt nicht mitbekommen. Es gelang ihr augenscheinlich aber nicht besonders gut, denn Celina hatte es längst bemerkt oder zumindest einen Verdacht.
»Weinst du jetzt etwa? Willst wohl auch noch Mitleid, obwohl du es eh schon einfacher hast.«
Celina blickte kurz zu ihren Freunden, die etwas irritiert dreinschauten.
»Ja, ist doch wahr. Sie muss Referate nicht vor der Klasse halten, sondern kann sie ganz bequem zu Hause vorbereiten. Wahrscheinlich nimmt sie mehrere Versuche auf und sucht sich dann den besten aus. Wenn sie sich verspricht, schneidet sie das einfach raus. Das ist ungerecht gegenüber uns, die vor der ganzen Klasse geprüft werden. Die Sechs heute in Englisch hast du verdient. Oder soll sie dir etwa eine Eins aus Mitleid eintragen? So läuft das fei nicht hier. Es geht ja auch darum, ob man Englisch sprechen kann. Wir wissen ja nicht mal, ob du überhaupt Englisch verstehst.«
An dieser Stelle schaltete sich ein Junge aus der Gruppe ein.
»Wir wissen nicht mal, ob sie überhaupt Deutsch kann.«
»Genau, vielleicht spricht sie gar nicht unsere Sprache und denkt sich nur, ›was schreien die da rum wie Idioten?‹«, warf ein anderer ein.
Mit dem letzten Teil hast du recht. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt