»... und nun erzähle ich noch etwas zur Geschichte des Landes.«
Marie steht vor ihrer Klasse, redet, als hätte sie nie etwas anderes gemacht und trägt ihr Referat über Griechenland vor. Tosender Applaus breitet sich im Raum aus, als sie ihren Vortrag beendet. »Gut gemacht, Marie«, gratulieren der Lehrer sowie ihre Mitschüler. Nachdem die Klingel den Unterricht beendete, strömen die Schüler chaotisch durch die Tür in die Pause. Marie schaut wild umher. Das Chaos wird größer, die Umgebung unklarer und zunehmend verschwommener. Die Personen sind nicht mehr zu erkennen. Marie bewegt sich auf die Tür zu, die immer kleiner zu werden scheint. Das Klingeln wird immer lauter und schriller, je näher sie der Tür kommt. Als sie es endlich geschafft hat und hindurch geht, wird das Klingeln unerträglich. Doch auf der anderen Seite kommt sie nie an.
Langsam öffneten sich ihre Augen, als sie realisierte, dass alles nur ein Traum war und das Pausenklingeln in Wirklichkeit der Wecker war, der auf 06:30 Uhr eingestellt war.
Wäre ja auch zu schön gewesen.
Mit einer Hand griff sie zu dem Nachttisch über ihrem Bett, um das Handy zu nehmen, welches immer noch vor sich hin summte. Ein Wischen nach rechts. Jetzt war es still geworden im Zimmer.
Ist es wirklich schon so weit? Wir haben doch gerade erst unsere Zeugnisse erhalten und uns in die Ferien verabschiedet.
Marie setzte sich auf, streifte sich die Haare aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg in die Küche.Sie steckte zwei Scheiben des Toastbrots in den Toaster und scrollte, während sie darauf wartete, bis die Toasts wieder hochsprangen, kurz durch die Nachrichten auf ihrem Handy. Nun, sie durchforstete mehr ihre Instagram-Startseite, als mit jemandem zu schreiben. Niemand schrieb Marie, außer wenn Mitschüler nachfragten, was als Hausaufgabe auf war; und selbst hier war Marie mehr letzte als erste Wahl.
Ein paar Minuten später schlurfte ebenfalls ihr großer Bruder müde in die Küche.»Weg!«, meinte er und machte mit seiner rechten Hand eine Geste, dass Marie von ihrem Stuhl aufstehen sollte.
»Ich war schneller!«, konterte sie und blieb stur sitzen, während sie demonstrativ von ihrem Toast abbiss.
»Ich bin älter, also rück rüber jetzt!«, entgegnete ihr Bruder strenger.
»Nein! Du sitzt immer hier und du hast versprochen, im neuen Schuljahr darf ich hier sitzen.«
»Im neuen Schuljahr. Ich hab nicht gesagt, dass du gleich am ersten Schultag da sitzen darfst.«
»Hättest halt früher aufstehen müssen.«
Marie grinste ihren Bruder schelmisch an.Es war ein gewöhnlicher Morgen an einem Schultag. Der Vater war wie jeden Tag bereits außer Haus und bekam von den Zankereien der Geschwister selten etwas mit. Die Mutter hingegen wurde durch die kleineren Streitereien regelmäßig wach und war mittlerweile auch genervt davon.
»Einmal, nur einmal, möchte ich in Ruhe frühstücken. Schafft ihr das?«
»Es wär ja alles längst vorbei, wenn Marie einfach aufstehen würde«, versuchte sich ihr Bruder einer Erklärung.
»Du könntest dich aber auch einfach auf einen der anderen drei Stühle setzen. Du hast immerhin angefangen«, rechtfertigte sich Marie.
Ihr Bruder wollte gerade zu einem neuen Gegenschlag ansetzen, als ihn die Mutter unterbricht.
»Nein, Kilian! Marie hat Recht. Sei vernünftig und setz dich auf einen anderen Stuhl, anstatt dich aufzuführen wie ein Fünfjähriger.«Nachdem das Frühstück schließlich ohne weitere größere Auseinandersetzungen überstanden war, ging es mit dem Kampf ums Badezimmer wieder von vorne los
»Beeil' dich. Ich muss auch noch rein«, rief Kilian von draußen, während er an die Tür klopfte.
»Hör auf damit und geh ins untere Bad«, versuchte die Mutter zu vermitteln. »Und du beeilst dich bitte«, rief sie im Anschluss durch die geschlossene Badezimmertür.
»Ich hab doch gerade schon auf den Stuhl verzichtet. Wieso soll ich jetzt wieder nachgeben?«
»Das hat nichts mit nachgeben zu tun. Ich will einfach nur meine Ruhe«, verteidigte die Mutter ihre Entscheidung, während sie längst wieder in der Küche war und sich ihrem Kaffee und der Zeitung widmete.
»Hättest du beim Frühstück nicht so rumgezickt, sondern stattdessen gegessen, wärst du früher fertig gewesen und stündest jetzt im Bad«, drang Maries gedämpfte Stimme durch die Tür.
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Schweigen - Aufbruch
Teen FictionMarie kann nicht immer sprechen. Von klein auf hatte sie nur wenige Freunde; saß im Kindergarten oder in der Grundschule meist alleine zurückgezogen in einer Ecke. Anfangs wurde es als Schüchternheit abgetan und ignoriert. Doch es änderte sich nich...