Kapitel 1.12 - Weihnachten

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Marie wachte auf und lief sofort zu ihrem Adventskalender, der neben der Tür hing. Es war das letzte Türchen und heute war ein besonders großes Schokoladenstückchen drin. Sie ließ die Schokolade mit der Milchcremefüllung auf ihrer Zunge zergehen.
Mhmm! 

Heiligabend. Festliche Dekorationen im ganzen Haus. Winterliche Stimmung? Nein, die kam nicht auf in Marie. Es sollten bis zu dreizehn Grad an diesem Tag werden und für Nachmittag war Regen angekündigt, was der wolkenverhangene Himmel bereits am Vormittag vermuten ließ. Marie stand an ihrem Fenster und sinnierte beim Blick nach draußen. Der Rasen war grün, aber kein saftiges Grün wie im Frühling, wenn alles anfängt zu gedeihen. Er war kurz gemäht und das Braun der Erde schimmerte hindurch. Dazu verteilte sich die Feuchte des Regens vom Vortag, offenbar hatte es auch in der Nacht noch ein wenig geregnet, wie ein Film über dem Gras. Die Bäume zeigten ihre kahlen Äste, welche das triste Gesamtbild vollendeten. Würde der Kalender nicht 24. Dezember anzeigen, könnte man glatt meinen, es wäre November. Aber weiße Weihnachten waren schon immer selten gewesen und wegen des Klimawandels schien das Atlantikhoch über die Weihnachtszeit noch extremere Temperaturen zu bringen. 

*** 

»Marie! Kilian! Kommt ihr alle?«, rief die Mutter aus der Küche.
Es gab Würstchen zu Mittag. An Heiligabend gab es mittags nie eine große Mahlzeit, dafür wurde am Abend umso größer aufgetischt.
Marie nahm sich ein Paar der Würstchen und klatschte einen Löffel Kartoffelbrei sowie einen Klecks Tomatenketchup auf ihren Teller. Ihre Eltern unterhielten sich während des Essens, ihr Bruder sagte zwischendurch auch mal etwas. Marie aß stumm ihre zwei Würste sowie den Kartoffelbrei, auch wenn sie jeden Bissen nur mit dem bekannten Druckgefühl im Hals hinunterschlucken konnte.
Hört das denn nie auf?
Nach dem Essen half Marie noch dabei, den Geschirrspüler einzuräumen und verschwand anschließend in ihrem Zimmer, bevor sie einige Zeit später ins Bad huschte, um zu duschen. Da Marie nicht mehr als ein Shampoo und ein Duschgel verwendete, sowie sich auch nicht schminkte, war sie nach einer halben Stunde wieder draußen. Mit umgehängtem Bademantel schlich sie zurück in ihr Zimmer und suchte im Kleiderschrank ein paar festliche Klamotten, wobei festlich bei Marie bedeutete, ein noch ungetragener Hoodie sowie eine neue Jeans. Es war gerade einmal fünfzehn Uhr. Marie hatte also noch genügend Zeit, die sie sodann am Laptop verbrachte. 

Im Nu wurde es schließlich Abend und die Mutter bereitete in der Zwischenzeit das Festessen vor. Gegen achtzehn Uhr wurde der Tisch gedeckt mit den guten Tellern sowie dem Tafelbesteck.
Als ob das normale Geschirr nicht reichen würde.
Zum Schluss stellte die Mutter das Essen auf den Tisch. Es gab Ente mit Kartoffelknödel und Rotkohl.
Marie und der Rest der Familie nahmen am Tisch Platz und füllten ihre Teller. Da Marie Ente nicht mochte - sie war im Allgemeinen das Essen betreffend sehr wählerisch -, gab es für sie nur Kartoffelknödel mit Rotkohl, aber das war okay für sie. Vor versammelter Mannschaft brachte sie sowieso nicht viel hinunter. Das Essen verlief fast wie in einer gewöhnlichen Familie. Sie unterhielten sich, tauschten sich über ihre Gedanken aus. Auch der Vater zeigte plötzlich an anderen Dingen als seiner Arbeit Interesse.
»Wie läuft es denn in der Schule?«
Er schaute Kilian an, welcher auch umgehend von seinen Leistungen erzählte. Er hatte anscheinend das Ziel, beim Abschluss unter den Schulbesten zu sein. Das musste so sein. Warum sonst sollte jemand so viel Zeit ins Lernen investieren?
»Und bei dir?«, fragte er nun Marie.
Sie schwieg, wie immer, wenn ihr Vater im Raum war.
Interessiert dich das wirklich? Es ist ja sonst immer die Arbeit wichtiger. 

Nach dem Essen halfen alle, den Tisch zu räumen. Früher hatte die Mutter immer gesagt: »Das Christkind sieht vom Wohnzimmer aus zu. Wer nicht beim Abräumen hilft, bekommt keine Geschenke.«
Auch wenn Marie und Kilian schon lange nicht mehr ans Christkind glaubten und Marie auch schon länger keine Geschenke mehr erwartete, hatte das gemeinsame Abräumen eine gewisse Tradition in der Familie. 

Als der Tisch abgeräumt und die Küche wieder in einem ordentlichen Zustand war, gingen alle vier gemeinsam ins Wohnzimmer. Auf der linken Seite befand sich die Wohnwand mit einem mittelgroßen Flachbildfernseher, in einem der unteren Fächer lag die Spielekonsole und daneben ein paar dazugehörige Spiele. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine schwarze L-förmige Couch in Lederoptik, auf dem gläsernen Couchtisch davor lagen ein paar Hefte sowie der Plätzchenteller, den die Mutter gerade dort abstellte. In einer Ecke neben dem Sofa erhellte der geschmückte Christbaum den Raum. Um den Baum herum verteilten sich einige Geschenke und durch die großen Fenster schienen die Lichterketten, was nun den ganzen Raum in weihnachtliche Stimmung versetzte. Wie jedes Jahr zückte Marie ihr Handy und fotografierte den Baum mit den Geschenken. Auch das war mittlerweile Tradition, ihre Tradition. 

»Also, dann packt mal eure Geschenke aus«, brach die Mutter die kurze Stille. »Wir wollen schließlich noch zur Christmette.«
Kilian bückte sich schließlich, um nach Geschenken mit seinem Namen zu suchen. Marie zögerte einen Augenblick, entschloss sich aber sehr bald dazu, es ihrem Bruder gleichzutun. Als sie eins mit ihrem Namen entdeckte, tastete sie es vorsichtig ab. Schon beim Anheben merkte sie, dass es etwas Weiches sein musste.
Bestimmt wieder Socken oder was Ähnliches.
Marie seufzte kaum hörbar. Sie legte das Geschenk beiseite und suchte weiter, bis sie erneut ihren Namen auf einem der Kärtchen las. Diesmal war es rechteckig und eher flach, so wie die Hülle einer DVD oder eines Konsolenspiels. Marie legte auch dieses zu dem anderen Geschenk und nahm das Nächste, das ihren Namen trug, in die Hand. Auch dieses war rechteckig, aber viel größer als das davor und noch dünner. Nachdem es das Letzte war, entfernte sie vorsichtig die Klebestreifen und wickelte das Geschenkpapier auf. Schnell wurde ihr klar, was das war – ein Kalender mit verschiedenen Tiermotiven. Von süßen Kätzchen über majestätische Pferde bis hin zu Delfinen würden sie im nächsten Jahr die Tiere von ihrer Wand aus anlachen. Als Nächstes packte sie das Geschenk in DVD-Hüllen-Form aus und zum Schluss das Weiche, das nur etwas zum Anziehen sein konnte. 

Als Marie die ausgepackten Geschenke auf dem Tisch abstellte und das zerknitterte Geschenkpapier vom Boden aufhob, kam ihr Vater auf sie zu.
»Und gefallen sie dir?«, sagte er mit Blick auf den Tisch, doch Marie blieb stumm.
Selbst wenn sie sprechen hätte können, hätte sie darauf keine Antwort gewusst. Zu plötzlich kam diese Frage. Auf einmal legte er seine Arme um seine Tochter und meinte:
»Ich werde immer für dich da sein.«
Marie stand wie angewurzelt auf dem Boden, ihre Arme hingen regungslos an der Seite ihres Körpers. Die Umarmung fühlte sich seltsam an. Sie war anders, als wenn ihr Opa sie umarmte. Es war kein warmes, herzliches Gefühl, sondern Unwohlsein, das sich in Marie breitmachte.
Bitte lass los.
Marie hasste die Versuche der Zuneigung, die ihr Vater an solchen Tagen zeigte. An Tagen wie diesen war die Arbeit plötzlich überhaupt kein Thema und die Familie ihm scheinbar wichtig. Gleichzeitig schämte sie sich für diese Gefühle. Ihr Bruder kam schließlich auch zurecht mit ihm. Wieso konnte sie nicht mit ihm sprechen und wies ihn ab?
Verdammt, es ist mein Vater. Es sollte sich nicht so komisch anfühlen.
Nach Sekunden der Ewigkeit ließ er endlich von ihr ab. Erleichterung machte sich in Marie breit.
Was war das denn? 

Um halb Zehn schaltete die Mutter den Fernseher aus.
»Wir müssen jetzt los, sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig zur Messe.«
Es dauerte einen Moment, bis Marie realisierte, dass der Fernseher aus ist. Mit schläfrigen Augen stand sie auf und folgte ihrem ebenso müden Bruder zur Kommode im Flur, wo sie sich ihre Jacken und Schuhe anzogen.
Warum muss das immer so spät sein?
Zwischenzeitlich konnte Marie ein paar Mal Gähnen nicht verhindern.
Ich will ins Bett.
Als die Mutter die Haustür öffnete, sprang ihnen die dunkle Nacht, die nur von einzelnen Lichterketten an den Häusern unterbrochen wurde, entgegen. Der Regen hatte zum Abendessen bereits aufgehört, so war nur der Boden noch nass, sie blieben allerdings trocken. Es war nicht kalt, aber dennoch frisch, wenn man gerade aus der wohltemperierten Wohnung kam. Genau das brauchte Marie jedoch auch, um wenigstens eine kleine Chance zu haben, wenn sie in der Kirche gegen ihr Schlafbedürfnis ankämpfte.
Nur wenige Augenblicke später parkte der Vater das Auto auf dem Parkplatz vor der Kirche. Sie hatten Glück und waren noch relativ früh dort, so dass sie nicht weit laufen mussten. 

Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr läuteten die Glocken des Kirchturms. Die Gläubigen erhoben sich von den Bänken und der Priester eröffnete die diesjährige Christmette. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt