Kapitel 1.11 - Die Stegreifaufgabe

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›Ähm, du musst das unterschreiben.‹
Nein, das klingt zu sehr nach Befehl.
›Ich brauche da eine Unterschrift.‹
Zu schwammig. 

Marie zerbrach sich stundenlang den Kopf darüber, wie sie ihre Eltern am besten nach einer Unterschrift für ihre verkorkste Arbeit in Religion bitten könnte. Zwischendurch lenkte sie sich mit YouTube-Videos von der Schule ab. Als sie schließlich den für sie perfekten Satz gefunden hatte und sich auf den Weg in die Küche machte, hörte sie durch die geschlossene Küchentür die Unterhaltung der Eltern über den Winterurlaub.
Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Morgen vielleicht.
Am nächsten Tag belauschte sie ein Gespräch über die Weihnachtsfeiertage.
Nee, das passt jetzt nicht. 

So verstrichen auch die nächsten Tage und Wochen. Marie fand immer eine weitere Ausrede, warum es in dem Moment unpassend war. Mittlerweile war das Schuljahr in der letzten Woche vor Weihnachten angekommen und Marie trug die nicht-unterschriebene Stegreifaufgabe immer noch mit sich rum. Sie wusste, sie konnte nicht zu Herrn Göbel gehen und sie ohne Unterschrift abgeben. Er hatte eine deutliche Anweisung gegeben. Was würde geschehen, wenn Marie nochmal ohne Unterschrift vor ihm stünde? Sie wollte es nicht herausfinden. Dafür war er zu einschüchternd. 

Ungewöhnlich für den herrischen Religionslehrer fuhr er an diesem Tag nicht wie gewohnt mit dem Unterricht nach Lehrplan fort, sondern legte nur eine DVD ein.
Wenigstens kein Unterricht.
Marie freute sich zunächst noch, bedeutete es doch, dass sie ihrem Lehrer nicht ständig in die Augen schauen musste. Als er den Film jedoch startete und typische Filmmusik ertönte, kam er auf Marie zu und bat sie erneut um die Abgabe. Zu ihrem Erstaunen hatte er eine ruhige Stimme an den Tag gelegt.
»Hast du deine Stegreifaufgabe dabei?«
Marie hatte Angst vor diesem Lehrer, also tat sie wie ihr befohlen und holte ihre Arbeit heraus. Mit zitternden Händen legte sie diese auf den Tisch. Er griff mit seiner Hand, deren Haut bereits deutlich von Falten gezeichnet war, danach und erblickte sofort die fehlende Unterschrift, was er durch ein genervtes Stöhnen mitteilte.
»Na gut, bevor ich aber noch länger darauf warten muss, nehme ich sie mit. Denk aber nicht, dass das von nun an immer so läuft.«
Mit dem letzten Satz wurde seine Stimme lauter und mahnend. Mit dieser Aktion hatte sich Marie gewiss keinen Freund gemacht, aber als Religionslehrer bestand die gute Chance, dass sie ihn nach diesem Schuljahr nicht mehr haben würde.
Moment mal, was war noch gleich sein anderes Fach?
Es würde schon nicht so wichtig gewesen sein. Es gab schließlich noch sechzig weitere Lehrer an dieser Schule.
Es ist schon Weihnachten. Das restliche Jahr wird auch schnell vorbei sein und dann muss ich ihn nicht mehr sehen. 

*** 

Einige wenige Schneeflocken verirrten sich an diesem Morgen auf die Erde. Sie blieben aber nicht liegen. Dafür war der Boden zu feucht. Weihnachten war nur noch wenige Tage entfernt. Für die Schule bedeutete das, dass es der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien war. Unterricht wurde an diesem Tag in den meisten Fächern nicht mehr gemacht. Es herrschte eine gemütliche Stimmung im Klassenzimmer. So manchen Lehrer konnten die Schüler an jenem Tag von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Nicht nur als den Lehrer, sondern privater. Ja, sie erzählten teilweise persönliche Geschichten ihrer vergangenen Weihnachten, von dem Zusammentreffen mit der Familie, die sie das ganze Jahr über nicht gesehen hatten, bis hin zu witzigen Anekdoten aus der Kindheit. 

Es wäre ein schöner letzter Schultag gewesen – wenn Frau Mertens nicht die grandiose Idee des Wichtelns gehabt hätte.
Bereits Anfang Dezember war jedem Schüler anonym ein Name zugelost worden, dessen Person sie anschließend ein Geschenk im Wert von maximal fünf Euro kaufen mussten. Marie hatte Jonas' Namen gezogen. Nun hatte sie sich den Kopf darüber zerbrechen müssen, was sie einem Jungen, den sie überhaupt nicht kannte, schenken sollte.
Was kauft man dreizehnjährigen Jungs als Wichtelgeschenk?
Sie hatte sich irgendwann für eine Tafel Schokolade und eine Packung Gummibärchen entschieden.
Süßigkeiten mag schließlich jeder.
Gleichzeitig hatten sie die Gedanken, wer sie denn nur gezogen hatte, innerlich aufgefressen.
Wer hat mich und was werde ich wohl bekommen? Was, wenn mich irgendjemand, der mich nicht mag, gezogen hat?
Am letzten Tag vor den Ferien bekam jeder Schüler sein Wichtelgeschenk überreicht. Es war Frau Mertens sehr wichtig, die Identität des jeweiligen Wichtels geheim zu halten, daher sammelte die Lehrerin alle Päckchen in einem Karton.
Immerhin etwas.
Marie stand mit dem Rest der Klasse auf und legte ihres zu den anderen in die Schachtel.
Hoffentlich hat niemand den Namen gelesen, während ich es abgegeben hab.
Die Spannung stieg, als Frau Mertens ein Päckchen nach dem anderen herausnahm und zu dem entsprechenden Schüler brachte. Wann würde Marie ihres bekommen? Was würde es sein? Würde sie überhaupt eines bekommen? Was, wenn ihr Wichtel einfach nichts gekauft hätte, weil es doch eh nur »die Stumme« war? Es hätte auf jeden Fall niemand mitbekommen, wenn sie als einzige nichts bekommen hätte. Sie hätte sich schließlich nicht beschwert. 

Mit einem kleinen Päckchen kam Frau Mertens nach einigen Minuten auf Marie zu und stellte es auf ihrem Tisch ab.
»Das ist für dich.«
Marie begutachtete die Verpackung. Sie war rot und in goldfarbener, verschnörkelter Schrift zog sich der Schriftzug »Merry Christmas« wiederholend über das Geschenkpapier. Am oberen Ende war das Paket mit einem blauen Geschenkband verschnürt.
Was das wohl ist? Noch wichtiger: Von wem ist das? Wer macht sich die Mühe, mir etwas zu schenken?
Unauffällig drehte Marie ihren Kopf zu Jasmin und schaute gleich danach im Klassenzimmer umher.
»Von mir ist es übrigens nicht, falls du dich fragst.«
Mist. Sie hat es bemerkt.
»Warum machst du es nicht auf?«
Warum nicht? Na, ich weiß nicht, was sich darin verbirgt. Es könnte irgendeine böse Überraschung auf mich warten. Vielleicht ist es einer dieser Scherzartikel, bei denen dir der Inhalt entgegenspringt, wenn du sie öffnest. Vielleicht ist es nur ein Stück Geschenkpapier, das so zusammengefaltet wurde, dass es aussieht, als wäre etwas drin, während es in Wahrheit nur Luft ist. Ich kann es nicht jetzt öffnen. Nicht hier, wo es alle mitbekommen, wo es Jasmin mitbekommt. Womöglich warten die anderen nur darauf, bis ich es aufmache, um sich dann über mich lustig zu machen.
Marie blickte im Klassenzimmer umher, als eine Gruppe von Mädchen zu kichern anfing.
Sie haben sich bestimmt über mein ›Geschenk‹ ausgetauscht und es ist wirklich ein Scherzartikel.
Unsinn, wie soll das gehen? Sie haben sich einfach nur nett unterhalten. 

»Ich wünsche euch allen schöne Weihnachten. Genießt die freie Zeit und erholt euch gut«, verabschiedete die Lehrerin ihre Klasse in die wohlverdienten Ferien.
»Ihnen auch«, war von einigen als Antwort zu hören, bevor sie den Raum verließen.
»Schöne Weihnachten«, rief Jasmin Marie hinterher, als sich ihre Wege nach der Schule trennten. Marie lächelte wie gewohnt und stellte sich an dieselbe Stelle, wo sie immer auf den Bus wartete. 

Zuhause packte Marie das Geschenk, das sie sicher in einem Seitenfach ihres Rucksacks verstaut hatte, wieder aus und stellte es vor sich auf ihren Schreibtisch.
Was soll ich nur damit tun?
Marie seufzte; und als sie drauf und dran war, es zu öffnen, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer.
»Marie! Kilian! Hilft mir einer mal mit dem Baum?«
Tja, was sein muss, muss sein. Ich hab keine Zeit, das Geschenk aufzumachen.
Marie ging zu ihrer Mutter und half ihr, den Weihnachtsbaum aufzustellen und anschließend zu schmücken. Das Geschenk musste warten, ihrer Mutter zu helfen hatte nun Priorität. Gleichzeitig konnte sie durch das Schmücken ihren Kopf auf andere Gedanken bringen und ihre Sorgen darüber, was ihre Mitschüler im schlimmsten Fall aushecken konnten, abschütteln. Kugel für Kugel nahm sie aus der Schachtel und hängte sie an den Baum. Marie hatte ein Händchen für Dekoration und sie wusste genau, wo eine Kugel hinmusste, damit der Baum nach etwas gleichsah. Zwischen den Kugeln tanzten Engel und Strohsterne von den Ästen. Nach etwas mehr als vier Stunden war Marie zufrieden mit ihrem Werk. 

Endlich konnte sie das Päckchen aus der Schule öffnen. Behutsam entfernte sie die Schleife, nachdem sie wieder zurück in ihr Zimmer gegangen war, und rollte das Geschenkpapier auf, um den darin eingewickelten Gegenstand nicht zu zerstören. Nach einer weiteren Runde Aufrollen blitzte sie ein glänzender Würfel an. Als sie es schließlich vollständig ausgepackt hatte, erkannte sie das Objekt. Es war ein Zettelhalter. Oben war eine Klammer befestigt, die die Zettel festhielt. Auf dem Würfel stand eine kleine Figur, welche aussah wie ein Engel. Das Gesamtbild war so konstruiert, dass es den Anschein erweckte, der Engel würde die Zettel mit seinen Händen halten. Es war richtig schön. Wer schenkte ihr nur so etwas, wenn es Jasmin nicht war? War ihre Klasse doch nicht so schlimm, wie Marie auf den ersten Blick vermutet hatte? Gab es Hoffnung, dass ihre Mitschüler sie irgendwann akzeptieren würden? Ein zaghaftes Lächeln verirrte sich in Maries Gesicht und schaffte es sogar, ihre negativen Gedanken so weit zu verdrängen, dass sie die Weihnachtstage nicht damit verbrachte, nach arglistigen Motiven hinter der Geste ihres Weihnachtswichtels zu suchen. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt