Kapitel 1.25 - Sommerferien

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Die Sommerferien waren bereits fast zur Hälfte um, als Marie an jenem Tag aufwachte und beschloss, etwas zu ändern. Sie lebte jeden Tag vor sich hin. Im Grunde machte sie nichts weiter als aufstehen, essen, im Internet surfen und wieder ins Bett gehen. Andere Mädchen in ihrem Alter trafen sich mit Freunden, unternahmen etwas gemeinsam und hatten Spaß. Auch mit Jasmin traf sie sich in den Ferien seltener, jetzt, wo sie sich nicht jeden Tag in der Schule sahen.
Warum kann ich nicht wie andere sein? Was ist nur anders bei mir? Wieso fühle ich Dinge, die andere überhaupt nicht kennen? Ich kann doch nicht die Einzige sein, der es so geht. 

Am Nachmittag machte sie es sich auf der Couch in ihrem Zimmer mit dem Laptop auf dem Schoß gemütlich. Sie starrte eine Weile auf die Startseite des Browsers, ehe sie anfing zu tippen: »M...«
Es erschienen verschiedene Vorschläge, doch das Passende war noch nicht dabei.
»...u«, ergänzte sie weiter, doch noch immer tauchte das gesuchte Wort nicht in den Suchvorschlägen auf.
Es kann doch nicht sein, dass Google das nicht kennt. Bin ich wirklich die Einzige damit?
»...t«. Bei jedem getippten Buchstaben schlug ihr Herz schneller.
Wieso kann ich das Wort nicht einfach schreiben?
Nach einigen Sekunden der Panik drückte sie schließlich das »I« auf der Tastatur und endlich erschien der Begriff. Sie bewegte den Mauszeiger darüber und klickte auf Mutismus. In der Millisekunde des Ladevorgangs fühlte es sich so an, als würde ihr Herz für einen Augenblick stehenbleiben. 

Marie wurde überwältigt von der Anzahl der Suchergebnisse. Wie konnte es nur so viele Treffer für ein Problem, das augenscheinlich nur sie kannte, geben? Niemand in ihrem Umfeld hatte je davon gehört. Ihr ganzes Leben war sie allein. Niemand verstand sie. 
Das erste Suchergebnis führte sie auf die Seite der Wikipedia. Sie las sich den Artikel durch und fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben verstanden. Nachdem sie den Tab wieder geschlossen hatte, stieß sie auf ein Forum für Betroffene und Angehörige. Sie versank in den Beiträgen der Betroffenen über die Schilderungen ihrer Leben und sie erkannte sich in jedem einzelnen Bericht wieder. Jedes Wort hätte aus ihrer Feder kommen können. Zwei Stunden lang durchforstete Marie das Forum.
Ich bin also doch nicht allein. Aber wo sind die alle nur im echten Leben? Ach, könnte ich nur jemanden, der mich versteht, in echt treffen.
Als sie sich die Beiträge der anderen Mutisten durchgelesen hatte, entschied sie, sich in diesem Forum selbst anzumelden. Sie registrierte sich dort mit dem Namen Marienkäfer03. Es sollte nicht ihr echter Name sein, jedoch war ihr die Nähe zu ihrem Namen wichtig und Marienkäfer fand sie niedlich. Die Zahl stand für ihr Geburtsjahr.
Nachdem sie im nächsten Schritt die Registrierung mit einem Klick auf den Link in der erhaltenen E-Mail bestätigte, konnte sie loslegen und im Forum eigene Beiträge verfassen. Der Erste davon waren ihre Erfahrungen mit dieser Erkrankung. Sie schrieb anonym über die Zeit im Kindergarten, in der Grundschule, den Erhalt der Diagnose, den Übertritt auf die Realschule, das Verhalten der Lehrer und Mitschüler ihr gegenüber und über Jasmin. Während sie Zeile für Zeile eine Kurzfassung ihres Lebens in das Textfeld eintippte, merkte sie, wie die Anspannung immer mehr fiel. Sie schrieb sich alles, was sich über viele Jahre in ihr aufgestaut und wofür sie keine Gesprächspartner hatte, von der Seele und das war befreiend. Nach einem letzten Mal Korrekturlesen schickte sie den Beitrag ab, der nun nur noch von einem Administrator des Forums freigeschaltet werden musste. 

In der Zwischenzeit las sich Marie auf der zugehörigen Informationsseite die Erklärungen hinsichtlich des selektiven Mutismus durch und versank regelrecht darin, sodass sie gar nicht mitbekam, wie viel Zeit vergangen war. 
Die Infos sind gut. Ich könnte es nicht besser erklären. Ich sollte ihr den Link schicken. Immerhin musste sie wegen mir das Referat alleine vortragen. Außerdem hat sie mir auch ihre Dyskalkulie anvertraut. Ich bin ihr diese Erklärung schuldig. 

Als sie fertig war, öffnete sie WhatsApp und verband es mit ihrem Laptop. So konnte sie den Link zu der Seite unkompliziert weiterleiten.

Marie klickte mit der Maus auf Jasmins Namen, woraufhin sich der Chatverlauf öffnete, und begann zu schreiben.
»Hi, wie du ja bereits mitbekommen hast, spreche ich in der Schule nicht. Das war schon immer so. Seit ich denken kann, rede ich außerhalb von zuhause nicht. Ich hab lange überlegt, wie ich es dir erklären soll. Naja, und heute bin ich auf diese wundervolle Seite gestoßen, die es besser erklärt, als ich es je könnte.«
Marie kopierte den Link aus der Adresszeile des Browsers und fügte ihn am Ende der Nachricht ein. Am Ende las sie sich jedes einzelne Wort der Nachricht noch einige Male durch. Sie haderte mit dem Gedanken, ob sie es tatsächlich abschicken sollte. Der Mauszeiger schwebte die ganze Zeit über dem »Abschicken«-Pfeil.
Nur noch senden. Will ich das wirklich? Ja, ich schulde es ihr. Sollte ich auch noch schreiben, wie die Lehrer damit umgehen? Nein, das würde zu mitleidig rüberkommen. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt