Was mach ich nur?
Seit einer halben Stunde wanderte Marie nun schon in ihrem Zimmer auf und ab.
Wieso habe ich nur zugesagt? Was soll ICH auf so einer Veranstaltung?
Die Zweifel stiegen ins Unermessliche und Marie konnte immer noch nicht begreifen, dass Jasmin tatsächlich einfach nur Zeit mit ihr verbringen wollte. Ständig suchten ihre Gedanken nach dem Haken an der ganzen Sache.Als sie schließlich um kurz nach vierzehn Uhr gerade noch rechtzeitig fertig wurde, machte sie sich auf den Weg. Die Fahrt mit dem Bus dauerte nicht lange, auch wenn es ungewohnt war, in den Ferien in einem Bus zu sitzen. Normalerweise fuhr sie damit nur auf direktem Weg in die Schule und mittags wieder zurück, immer mit fast denselben Leuten. Heute saß Marie mit völlig neuen Menschen in einem Bus, von denen sie nicht wusste, wohin sie wollten. Es waren allerdings nur drei weitere Personen anwesend, was die Situation für Marie so erträglicher machte. Sie setzte sich in den hinteren Teil, nachdem die anderen vorne saßen. Da sie sich gegen einen Rucksack entschieden hatte, fühlte es sich merkwürdig an, auf dem Platz zu sitzen. Sonst stand ihr Schulranzen immer neben ihr. Das diente unter anderem als Barriere zwischen ihr und der Umwelt. Heute war da keine Grenze. Sie fühlte sich nackt, wie ein Soldat schutzlos an der Front, ausgeliefert an die Anwesenheit fremder Menschen. Doch sie hatte keine andere Wahl. Ein Rucksack war ihr zu groß für die wenigen Sachen, die sie dabeihatte und er wäre sowieso nur im Weg gewesen, wenn sie erst mal dort war. Handtaschen hingegen trug sie nicht, da sie damit ihre Hände nicht in ihre Jackentasche hätte stecken können, ohne dass die Handtasche bei jedem Schritt an ihre Beine geschlagen hätte. Zudem brauchte Marie nicht viel. Sie nahm nur ihr Handy, die Hausschlüssel sowie ihr Portemonnaie mit; und das passte in ihre Jacke. Marie achtete beim Kauf von Jacken sehr genau darauf, dass die Taschen groß genug waren. Sollten Handy und Geldbeutel nicht hineinpassen, so kam es vor, dass Marie eine Jacke auch mal nicht kaufte, obwohl sie ihr gefallen hätte.
***
Ihr Handy vibrierte.
»Bin schon drinnen«, schrieb Jasmin.Marie inspizierte die Umgebung um das Gebäude. Rundherum standen die Menschen, einige mehr, andere weniger maskiert. Durch eine Tür liefen besonders viele Feierlustige.
Das scheint der Eingang zu sein.
Sie steuerte geradewegs mit gesenktem Blick auf ihr Smartphone darauf zu. Drinnen wischte sie über den Bildschirm ihres Handys, um den Anschein zu erwecken, auf jemanden zu warten, damit die Leute nicht bemerkten, dass sie nicht weiterwusste. Während ihres Ablenkungsmanövers beobachtete sie weiter unauffällig die anderen Gäste und folgte, nach einigen Minuten Wartezeit im Flur, den anderen durch die meistbesuchte Tür.
So viele Leute, die ich nicht kenne. Die unterhalten sich alle miteinander und ich weiß nicht, wie das geht. Die sehen alle älter aus als ich. Bin ich hier wirklich richtig?
Marie stand wie bestellt und nicht abgeholt neben der Tür und wischte wieder über ihr Handy.
Noch hat sie mich nicht gesehen. Ich kann also noch weg.»Hi Marie«, kam Jasmin in diesem Augenblick lächelnd mit einem anderen Mädchen hinter ihr auf Marie zu.
Mist. Zu spät. Jetzt komm ich nicht mehr raus aus der Nummer.
Jasmin hatte eine Pandamaske auf. Zu gerne hätte Marie nun einen Witz in Bezug auf Cro gebracht, doch zu groß war die Angst, dass sie wegen der Blockaden zu ernst rüberkommen würde. Also schluckte sie den Witz wieder hinunter und zwang sich stattdessen ein Lächeln auf die Lippen, als die beiden vor ihr standen.
Wer ist die andere? Warum wollte sie mich dabeihaben, wenn sie doch schon jemanden hat? Jemand, der nicht so kommunikationsunfähig ist wie ich. Jemand, mit dem sie Spaß haben kann und richtige Gespräche führen kann. Ich kann ihr das doch alles nicht bieten. Was soll ich also hier?
»Das ist übrigens Lia, meine Cousine«, stellte Jasmin das Mädchen, das ein Löwenkostüm trug, vor.
Oh, ihre Cousine.
»Lia, das ist Marie«, wiederholte sie das gleiche nun andersherum.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, grüßte Lia, während sie Marie ihre Hand entgegenstreckte.
Marie nahm diese lächelnd an.
Was sie wohl über mich weiß?
Nach dieser kurzen Begrüßung schlängelten sie sich durch die Masse und holten sich etwas zu trinken.Zu dritt setzten sie sich schließlich an einen Tisch in einer vergleichsweise ruhigen Ecke, sodass Marie auch eine Chance hatte zu sprechen. Nachdem Lia einen weiteren Schluck ihrer Cola zu sich genommen hatte, richtete sie ihren Blick auf Marie.
»Und du bist mit Jasmin in einer Klasse?«
Marie nickte vorsichtig.
»Wie läuft's bei dir so in der Schule? Bist du gut?«
Marie biss sich auf die Lippen.
Was sage ich nur, damit ich nicht wie ein Streber aussehe, aber gleichzeitig auch nicht faul rüberkomme?
»Geht so«, brachte sie folglich hervor.
»Ja, bei mir könnte es auch besser sein.«
Perfekt. Ich bin nicht alleine. Es war also eine gute Antwort.
»Im Moment bin ich noch auf dem Gymnasium, aber ich überlege zu wechseln. Es wird mir irgendwie alles zu viel hier. Da hab ich das alte Thema noch nicht mal verstanden, dann kommt schon wieder was Neues. Naja, und ich sehe mich sowieso nicht als Ärztin, Lehrerin oder Anwalt, also wo ich dringend studieren müsste.«In einer normalen Konversation würde das Gegenüber nun vermutlich fragen, wo sie sich denn sonst sieht. Aber das war hier keine gewöhnliche Konversation. Das Gegenüber war Marie Fink. Das Mädchen, das kein Gespräch am Laufen halten konnte und nur, wenn überhaupt, auf ihr gestellte Fragen antwortete. Zudem wusste Marie selbst noch nicht, was sie nach dem Abschluss machen wollte. Es wäre für sie unhöflich gewesen, andere danach zu fragen. Schon allein deshalb, weil sie auf die etwaige Gegenfrage keine Antwort parat gehabt hätte. Also brach das Gespräch mit Lia hier ab, obwohl sich Marie gerne weiter mit ihr unterhalten hätte. Sie machte einen sympathischen Eindruck. Da wäre so viel gewesen, das Marie noch interessiert hätte. Wo wohnte sie? Hatte sie Geschwister? Hatte sie Haustiere? All das blieb, wie so vieles in Maries Leben, unbeantwortet.
Stattdessen schweifte ihr Blick gedankenversunken im Raum umher, während sie hin und wieder einen Schluck aus der Flasche trank. Sie beobachtete mal wieder die Dialoge der anderen Menschen. Sie konnten schier endlos miteinander reden, ohne dass ihnen die Themen auszugehen drohten. Auch Lia führte nun mit Jasmin eins dieser Endlosgespräche. Da spürte Marie dieses komische Gefühl in der Brust und in ihrem Magen. Jenes Gefühl, das sie immer überkam, wenn sie nicht reden konnte und sich deswegen übergangen fühlte. Es schien so, als wären es die Worte, die sie nicht aussprechen konnte. Diese sammelten sich nun in ihrem Körper und brodelten vor sich hin. Nichts konnte das Gefühl stoppen. Erst zuhause lösten sich die Worte langsam wieder auf und das Gefühl ließ nach. Wenn es besonders stark war, konnte es auch bis zum nächsten Tag dauern, bis sie sich erholte. Lia und Jasmin versuchten zwar ab und zu, Marie in ihre Gespräche einzubinden, aber Marie konnte nicht mehr. Sie sagte zwar noch, um nicht unhöflich und desinteressiert zu wirken, ja oder nein, doch für tiefergehende Inhalte fehlte ihr die Kraft. Dieser Kloß aus Worten sog die gesamte Energie in sich auf. Marie probierte, durch Trinken das Wortknäuel hinunterzuspülen, doch es war zwecklos. Der Kloß saß felsenfest zwischen Magen und Brust.
Am Abend fiel Marie erschöpft ins Bett. Das Gefühl des Fremdkörpers hatte sie noch immer nicht verlassen und würde es heute auch nicht mehr tun. Sie zog sich ihren Schlafanzug an, wusch sich, putzte sich die Zähne und hoffte, dass am nächsten Morgen der Kloß verschwunden war.
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Schweigen - Aufbruch
Genç KurguMarie kann nicht immer sprechen. Von klein auf hatte sie nur wenige Freunde; saß im Kindergarten oder in der Grundschule meist alleine zurückgezogen in einer Ecke. Anfangs wurde es als Schüchternheit abgetan und ignoriert. Doch es änderte sich nich...