Kapitel 1.22 - Ostern

22 1 0
                                    

Hektisches Treiben herrschte im ganzen Haus. Jeder suchte irgendetwas. Der eine rannte die Treppe hinunter, der andere nach oben. Das Badezimmer war permanent seit dem frühen Morgen besetzt. Es war Ostersonntag und der Osterstress war im ganzen Haus zu spüren. Vormittags stand der Gang zur Kirche auf dem Programm und mittags versammelte sich die ganze Familie im Restaurant. Marie hatte sich zum Glück schon am Tag zuvor geduscht, denn sie wusste, dass heute anstrengend wurde. Ostern war für sie Himmel und Hölle zugleich. Einerseits freute sie sich, ihre Cousins und Cousinen zu sehen und konnte es kaum abwarten. Andererseits ermüdete sie das stundenlange Beisammensein, da sie für mehrere Stunden in ihren Blockaden gefangen war und keine Möglichkeit hatte, für einen Moment frei zu sein. 

Solange die anderen sich noch fertig machen mussten, saß Marie in ihrem Zimmer und hörte Musik. Sie nutzte diese letzten Minuten, um noch einmal Kraft zu tanken, sich zu besinnen und mental auf den anstehenden Tag vorzubereiten. Die Melodie drang über ihre Kopfhörer in ihre Ohren, die sanfte Stimme des Sängers beruhigte ihre Gedanken und durch die Konzentration auf den Text blendete sie alles um sich herum aus. 

»Sind alle bereit? Wir müssen jetzt los«, schallte es von außerhalb des Zimmers.
Im nächsten Augenblick klopfte die Mutter an die Tür.
»Marie, kommst du?« 

Langsam öffnete Marie ihre braunen Augen, nahm ihre Kopfhörer ab und stoppte die Musik. Sie packte ihr Handy in ihre Hosentasche und überlegte, während sie die Kabel der Kopfhörer sorgfältig aufwickelte, ob sie diese auch mitnehmen sollte.
Zur Sicherheit? Aber wenn ich sie verliere, wenn ich den ganzen Tag unterwegs bin? 

Nach dem Gottesdienst erreichten sie nach einer halbstündigen Autofahrt schließlich das Restaurant, zumindest den Parkplatz dessen. Die Suche nach einem freien Stellplatz dauerte jedoch einige Minuten. Es hatten wohl mehrere Leute den Gedanken, um diese Zeit essen zu gehen. Als der Vater am Ende des Parkplatzes das Auto endlich in einer freien Lücke abstellte, gingen sie ins Restaurant, wo bereits einige aus der Verwandtschaft Platz genommen hatten. Der Vater setzte sich als Erstes, daneben die Mutter und da Kilian vor ihr ging, setzte er sich neben ihre Mutter. Marie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, also nahm sie auf dem Stuhl neben ihrem Bruder Platz, auch wenn die Bestellproblematik ihr bereits Unbehagen bereitete. Die Mutter saß zu weit weg, als dass sie für Marie bestellen hätte können und selbst sagen, was sie wollte, das schaffte sie vor allen Verwandten noch nicht. Irgendetwas musste ihr jedoch einfallen – und das bald, denn die Bedienung fing schon an, die Bestellung für die Getränke entgegenzunehmen. 

In letzter Sekunde tippte sie eine Nachricht und schickte sie ab.
»Kannst du für mich übernehmen?«, erschien daraufhin auf Kilians Display.
»Pack das Handy ein«, mahnte ihn die Mutter flüsternd.
»Es ist aber wichtig«, entgegnete er ebenso wispernd.
»Aber nicht während der Bestellung.«
Doch. 

Er drehte sich zu Marie und gab ihr nonverbal zu verstehen, dass er für sie bestellen würde. Marie zeigte ihm darauf auf der Karte, was sie zu trinken haben möchte.
»Was darf es bei euch sein?«, fragte die Bedienung dann auch schon bei den beiden.
Kilian bestellte zunächst für sich eine Cola und nachdem die Kellnerin das notiert hatte, für Marie den Orangensaft.
Hat jemand was mitbekommen? Sie reden immer noch normal weiter, also wahrscheinlich nicht. Zumindest scheint es sie nicht zu interessieren. 

Die Kellnerin beendete ihre Runde und verschwand anschließend in Richtung Küche, ehe sie wenige Minuten später mit zwei Tabletts, auf dem die Getränke standen, zurückkam. Kilian verließ kurz nachdem er sein Getränk bekam den Raum, um auf die Toilette zu gehen. In der Zwischenzeit waren alle Getränke verteilt und die Bedienung begann, die Essensbestellungen aufzunehmen. Der Reihe nach teilte jeder seinen Wunsch mit und die Kellnerin kam Schritt für Schritt näher zu Marie. Hastig tippte sie ein weiteres Mal auf ihrem Handy herum.
»Wo bleibst du?«
Doch er reagierte nicht. Marie wurde immer nervöser. Die Speisekarte lag geöffnet vor ihr auf dem Tisch und sie starrte, kaum blinzelnd, auf das ausgewählte Gericht. Fast so, als könnte sie damit die Gedanken der Kellnerin beeinflussen, die den Wunsch dann von ihrem Gesicht ablesen könnte.
Wo bleibt er nur?
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ihr Gesicht wurde heiß. Um sich zu beruhigen, zappelte sie mit ihrem rechten Bein auf und ab.
Ich könnte auf seinen Platz rutschen. Aber was, wenn er ausgerechnet dann kommt?
Ich könnte auch nochmal aufs Klo. Aber was, wenn er in der Zwischenzeit kommt und bestellt? Dann muss ich danach alleine und alle schauen auf mich. Außerdem ist sie schon zu nah. Wenn ich jetzt gehe, ist es unhöflich. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt