Kapitel 1.14 - Der Skiurlaub (Teil 2)

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Verdammt, wo bin ich hier. Ich bin doch immer dem Wegweiser gefolgt. Keine Panik. Ich schaff das schon. Aber wo sind nur alle Leute hin? Vorhin waren doch noch so viele hier unterwegs.
Ihr Herz pochte immer schneller. Den Schweiß trieb es ihr auf die Stirn. Noch mehr als von der Anstrengung ohnehin schon.
Hab ich dich doch irgendwo eine Abzweigung übersehen?
Langsam kam sie auch den Tränen näher. Sie wusste, lange konnte sie diese nicht mehr zurückhalten.
Ganz ruhig. Einatmen, ausatmen. Wo könnte ich mich denn vertan haben?
Marie rekapitulierte den Weg in Gedanken und achtete dabei auf mögliche Abzweigungen, konnte sich nachträglich aber an keine mehr erinnern.
Auch noch kein Netz. Als wäre es noch nicht schlimm genug. Am besten fahr ich jetzt einfach das Stück wieder zurück und schaue zwischendurch, ob ich Netz habe. Keine Panik. Einatmen. Ausatmen.
Halb drei. Jetzt bin ich schon seit zwei Stunden unterwegs, weiß nicht, wo ich bin und hab immer noch kein Netz. ... Moment. Hier ist was. Hoffentlich reicht es für eine SMS.
Schnell schrieb sie eine kurze SMS mit den Worten »Brauche deine Hilfe, komm hier nicht mehr raus« an Kilian.
Bitte sei gesendet. Bitte. ... »JA!« 

Marie versuchte, sich warm zu halten und hoffte gleichzeitig, dass das schwache Handysignal ausreicht für eine Antwort-SMS. Nach wenigen Minuten klingelte das Handy auch schon.
Wieso ruft er an?
Mit zitternder Stimme nahm sie den Anruf entgegen.
Hoffentlich hält die Verbindung. 

»Wo bist du?«, klang es besorgt von der anderen Leitung.
»I-ich weiß nicht. Ich bin von dieser einen Hütte losgefahren, wo ich gemeinsam mit Jasmin war und jetzt steh ich hier«, erwiderte Marie ängstlich.
»Bleib ganz ruhig. Welche Hütte war das genau?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete sie verzweifelt.
Man, wieso hab ich mir den Namen nur nicht gemerkt?
»Weißt du noch irgendwas – wie hat die Hütte ausgesehen? Kannst du dich an irgendwelche Schilder erinnern? Alles ist hilfreich«, fragte Kilian mit beruhigender Stimme.
»Die Hütte war direkt neben einem Wald. Ich bin von der Hütte dann nach rechts gefahren, Richtung Kaiserlift«, versuchte Marie sich so viele Details wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. »Oh, und das eine Fenster hatte so eine auffällige Farbe. Ich glaube, es war Rot.«
»Hm, viel ist das nicht, aber ich werde herausfinden, wo du meinst. Bleib bitte ruhig und versuch dich abzulenken. Wir sind gleich da«, tröstete Kilian seine Schwester und wollte bereits auflegen, als Marie dazwischen grätschte.
»Warte, wir? Sag bitte nichts unseren Eltern. Er wird sich sonst wieder über mich aufregen.«
»Wieso?«, hakte Kilian verdutzt nach. Doch bevor er eine Antwort erhalten konnte, brach die Verbindung ab.
So ein Mist. Hoffentlich erzählt er es ihnen nicht. Ich hab keine Lust auf weitere blöde Kommentare.
Fast drei. Bald wird es auch dunkel. Hoffentlich kommt er bald.
Ihr Herz klopfte und die erste Träne konnte sie nun nicht mehr zurückhalten. 

Aus dem strahlend blauen Himmel wurde mittlerweile ein mit dichten Wolken verhangener.
Jetzt schneit es womöglich auch noch gleich.
Sie fröstelte bereits am ganzen Körper und das nicht nur wegen der Kälte, die sich zunehmend mehr ausbreitete. Ein nicht unwesentlicher Anteil ihres schüttelnden Körpers war der Angst geschuldet. Der Angst, alleine zu sein. Der Angst, nicht rechtzeitig gefunden zu werden. Der Angst vor dem Unbekannten. Was, wenn die Angaben nicht ausreichten? Was, wenn ein Fremder vorbeikommen und sich über das einsame Mädchen im Schnee wundern sollte? 

Marie hatte ihre Augen für einen kurzen Moment geschlossen und saß in der Hocke auf dem Schnee. Auch wenn sie durch das ihren Körper durchströmende Adrenalin kaum einschlafen konnte, musste sie dennoch kurz eingenickt sein. Denn plötzlich riss es sie aus ihrem Traum, als sie ein Knirschen im Schnee hörte.
»Marie? Bist du da?«, hörte sie eine Stimme, die ihr nur allzu vertraut war, durch den Wald rufen.
»Ja«, schrie sie sichtlich erleichtert zurück.
Ihr Bruder kam auf seinen Skiern zu Marie rüber, welche ihm sofort freudig um den Hals fiel. Er erwiderte die Umarmung ohne Überlegen. Sie genoss die Wärme, die er ausstrahlte. Es war genau das Richtige für ihren frierenden Körper. Gleichzeitig war es die Nähe, die ihr guttat, nach den letzten Stunden der Einsamkeit im Schnee.
»Ich bin so froh, dich zu sehen«, murmelte sie aufgelöst in seinen Anorak.
»Ich bin auch froh, dich gefunden zu haben.«
»Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.«
»Na, soweit wäre es nicht gekommen. Das hätte ich nicht zugelassen.«
Marie konnte nun auch die restlichen Tränen nicht mehr unterdrücken und weinte aufgewühlt in den Anorak ihres Bruders. Kilian reagierte darauf, indem er sie fester an sich drückte.
»Alles ist gut.« 

Nach einiger Zeit lösten sie sich langsam wieder aus der Umarmung. Kilian half Marie noch in die Bindung, ehe sie sich gemeinsam auf den Weg zurück machten.
»Ich will nur noch ins Bett.«
Die Erschöpfung war ihr anzusehen.
»Das glaub ich dir. Wir haben's bald geschafft. Du warst richtig mutig heute. Darauf kannst du stolz sein.«
Am Wegrand am Anfang des Waldes warteten bereits ihre Eltern.
»Du hast es ihnen gesagt?«
Marie schaute enttäuscht zu ihrem Bruder.
»Ja. Was hätte ich sonst machen sollen?«
»Äh, vielleicht meinen Wunsch respektieren?«, schlug Marie vor. »Jetzt kann ich mir wahrscheinlich wieder was anhören.«
»Ich glaube nicht, dass sie dir irgendwas vorwerfen. Sie sind bestimmt einfach nur froh, dass dir nichts passiert ist«, versuchte Kilian seine Schwester zu besänftigen.
»Du kennst doch Papa. Der findet immer etwas, um auf mir rumzuhacken«, entgegnete Marie. Plötzlich hallten seine Worte von Heiligabend in ihren Gedanken wider.
»Ich werde immer für dich da sein.«
Kurz breitete sich ein Lächeln auf Maries Gesicht aus, wurde dann aber von dem nächsten Gedanken verdrängt, was ihr Vater am gestrigen Abend beim Abendessen sagte.
»... weil sie es mal wieder nicht geschafft hat, den Mund aufzumachen.«
Sie wusste einfach nicht, was sie von ihrem Vater halten sollte. Im einen Moment tat er wie der fürsorgliche Papa, der nur das Beste für seine Tochter wollte; im Nächsten ließ er keine Gelegenheit aus, ihr die Schuld für ihr Verhalten zu geben. Er war unberechenbar diesbezüglich, wobei er meist die Seite zeigte, die Marie gerade am allerwenigsten brauchte und gerade war das die unverständnisvolle. Dementsprechend hatte sie Angst, was geschehen würde, wenn sie nun vor ihn trat. 

Auf dem ganzen Weg zurück sagte Marie kein Wort und vermied jeden Blickkontakt zu ihren Eltern, besonders zum Vater. 

Zurück in der Pension zog Marie nur noch ihre Jacke und die Skihose aus und ließ sich sofort ins Bett fallen. Nach einigen Minuten schlich ihr Vater ins Zimmer der Kinder, um nach Marie zu sehen. Doch diese schlief bereits tief und fest. Vorsichtig setzte er sich an den Rand des Betts und strich ihr sanft über das Gesicht. Kurz zuckte Marie zusammen, doch sie hielt ihre Augen geschlossen. Sie spürte die Wärme ihres Vaters neben sich und es machte ihr in diesem Moment auch nichts aus. Sie war zu erschöpft von diesem Tag. Sie hatte nicht die Energie für negative Gedanken über ihren Vater. Sie wollte einfach schlafen. 
»Ich bin so stolz auf dich«, flüsterte er ihr zu. »Ich weiß, ich war nicht immer ein guter Vater und bin es heute noch nicht. Manchmal bin ich einfach überfordert mit der Situation und sage oder tue Dinge, die ich später bereue. Aber ich würde nie wollen, dass dir irgendwas zustößt.« 

Marie schlief zwischenzeitlich wieder ein, sodass sie nicht den vollständigen Monolog ihres Vaters mitbekam. Nachdem er fertig war mit erzählen, verließ er den Raum und ließ Marie weiterschlafen. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt