Die Zeit schritt in schnellen Schritten voran und war bereits mitten im zweiten Halbjahr angekommen. Den Höhepunkt für die zweite Hälfte dieses Schuljahres stellte für Marie das Referat in Biologie dar. Dieses musste sie gemeinsam mit Jasmin vortragen, was grundsätzlich Erleichterung bedeutete. Bei gemeinsam ausgearbeiteten Projekten hatte Marie nie befürchtet, die Aufgabe falsch zu bearbeiten. Es war schließlich ein Gemeinschaftsprojekt. Wenn, dann würden alle versagen. Allerdings musste eine praktikable Lösung her, wie auf Maries besondere Situation Rücksicht genommen werden konnte, gleichzeitig Jasmin aber keine Vorteile gegenüber den Mitschülern aus der Zusammenarbeit mit Marie ziehen konnte; und das war gar nicht so einfach.
»Frau Hammer?«, sprach Jasmin die Lehrerin nach dem Unterricht an.
»Haben Sie kurz Zeit? Es geht um unser Referat. Wir wissen nicht, wie wir das vortragen sollen.«
Frau Hammer verstand das Problem sofort.
»Weil Marie nicht spricht, richtig?«
Jasmin nickte bestätigend; Marie versuchte es auch, was aber nur für sie bemerkbar war.
»Wie ist es denn bei anderen Referaten?«, erbat die Lehrerin freundlich Auskunft.
»In Deutsch hat sie ein Video aufgenommen«, erklärte Jasmin, »aber da war sie allein.«
»Das klingt ja erst mal nach einer guten Idee, wenn das so funktioniert hat. Aber du hast natürlich recht. Zu zweit könnte das schwierig werden, da ich für dich diese Ausnahme nicht machen kann.«
Na toll, jetzt bin ich schon wieder eine Ausnahme, dabei will ich das eigentlich gar nicht. Wieso kann ich es nicht einfach normal machen? Wieso kann ich nicht normal sein?
Einen Moment lang herrschte Stille im Klassenzimmer, während sie nach Alternativen suchten.
»Vor der Klasse schaffst du es noch nicht, oder?«, richtete Frau Hammer das Wort an Marie, welche daraufhin dem Blick der Lehrerin nicht standhalten konnte und ihre Augen auf den Boden richtete.
»Wir könnten es gemeinsam nur vor Ihnen halten«, warf Jasmin in den Raum.
»Marie könnte das machen. Was dich betrifft, haben wir dann das gleiche Problem wie mit einem Video.«
»Und wenn nur Marie ein Video macht?«, fiel Jasmin ein weiterer Vorschlag ein.
»Daran habe ich tatsächlich auch schon gedacht, allerdings fehlt der Klasse dann ein Teil des Referats. Ich weiß ja nicht, wie ihr es untereinander aufgeteilt habt.«
»Wir hätten es jetzt so gemacht, dass ich anfange mit dem Aufbau und den grundlegenden Funktionen und Marie hätte dann weitergemacht mit möglichen Erkrankungen und Abweichungen davon.«
»Das hört sich nach einem guten Plan an. Wenn Marie ihren Teil noch zusätzlich schriftlich zusammenfasst, wäre es vielleicht doch möglich, dass sie ein Video aufnimmt.«
Frau Hammer blickte zu Marie.
»Ist das in Ordnung für dich? Es muss nicht lang sein. Stichpunkte genügen eigentlich.«
Ja, klar. Es soll ja niemand denken, ich hätte weniger Arbeit oder es irgendwie leichter.
Marie lächelte leicht und drehte sich anschließend zu Jasmin.
»Ich glaube, das ist okay für sie.«
»Gut, dann wäre das Thema auch erledigt oder habt ihr sonst noch Fragen?«
Jasmin schüttelte ihren Kopf.
»Nein, es ist alles klar soweit.«
»Ach, bevor ich es vergesse, Marie, es wäre gut, wenn du das Video mit dem Handzettel bereits eine Stunde vorher bei mir abgibst. Dann kann ich es bis zum Termin für alle kopieren.«Gemeinsam verließen Marie und Jasmin nach dem Gespräch das Klassenzimmer und machten sich auf den Weg zum Bus.
***
Durch den ganzen Stress mit dem anstehenden Referat geriet die Zeit außerhalb der Schule ein wenig aus Maries Blickwinkel. Es war nur noch eine Woche bis Ostern, weshalb die Ostervorbereitungen zuhause bereits in vollem Gange waren. Als Marie an jenem Tag von der Schule nach Hause kam, stieß sie im Flur bereits mit ihrer Mutter zusammen, die gerade dabei war, Osterdekoration im Haus zu verteilen.
»Pass mal bisschen auf«, warf ihre Mutter Marie hinterher, die aber schon auf dem Weg nach oben war.
»Ja, ist gut. Was gibt's zu essen?«, rief sie hinunter.
»Das Essen steht auf dem Herd«, schrie die Mutter zurück.Daraufhin trottete Marie in die Küche, nachdem sie sich aus ihren Schulklamotten befreit hatte und zur Jogginghose gewechselt war. Zu ihrem Entsetzen blickte sie jedoch auf einen leeren Herd.
Das gibt's doch nicht.
»Mama!«, brüllte sie wieder nach unten, wobei sie das letzte A in die Länge zog.
»Was denn noch?«, kam es nach einem kurzen Augenblick leicht genervt zurück.
»Auf dem Herd steht nichts!«
»Doch, natürlich! Du musst halt besser schauen!«, rief ihre Mutter erneut nach oben.
Gleichzeitig konnte Marie bereits Schritte die Treppe hinaufgehen hören.
»Hier ist es doch«, stellte die Mutter klar, als sie die Tür des Backofens öffnete.
»Im Backofen, war ja klar«, merkte Marie ironisch an, »wie hätte ich da denn draufkommen sollen?«
»Ich hab es dir doch gesagt«, verteidigte sich ihre Mutter.
»Du hast ›auf dem Herd‹ gesagt.«
»Auf dem Herd, im Backofen, ist doch alles dasselbe. Wenn's oben nicht ist, dann schaut man eben unten nach, bevor man gleich losschreit.«
»Man könnte es aber auch gleich richtig sagen und so Missverständnissen vorbeugen.«
Nachdem die Sache geklärt war, stapfte ihre Mutter wieder die Treppe hinab und Marie holte sich einen Teller, auf dem sie das Essen anschließend in der Mikrowelle erwärmte.Am Nachmittag setzte sich Marie an ihren Schreibtisch und fing an, sich in das Referatsthema einzulesen. Zumindest versuchte sie das, doch sie wurde ständig unterbrochen. Durch das geschlossene Fenster konnte Marie nicht viel wahrnehmen. Jedoch stritten sie sich unten wohl darum, ob der Strohosterhase vor oder hinter dem Fenster stehen sollte.
Stellt ihn eine Woche vor und eine Woche dahinter. Meine Güte.
Als endlich Ruhe einkehrte und Marie dachte, sie könnte sich nun auf Biologie konzentrieren, ging die nächste Diskussion über die Dekoration los; und zum Schluss fiel den Nachbarn auch noch ein, dass heute ein schöner Tag zum Rasenmähen wäre.
Das wird heute nichts mehr.
Also klappte Marie ihren Laptop zu und ging ins Wohnzimmer, um sich vor dem Fernseher abzulenken.
Irgendwas wird schon laufen.
Marie schnappte sich die Fernbedienung aus dem Regal und schaltete durch die Programme, nachdem der Fernseher nach einem Moment, der Marie immer ewig vorkam, Bild zeigte. Bei einem Sender blieb Marie schließlich stehen und legte die Fernbedienung auf dem Tisch vor der Couch ab. Anschließend machte sie es sich auf jener bequem und genoss das Fernsehprogramm. Irgendwann musste sie jedoch eingeschlafen sein, denn plötzlich zuckte sie zusammen, als sie ihre Mutter bei der Tür hereinkommen hörte. Verträumt rieb sie sich die Augen und räkelte sich auf der Couch. Die Sendung, die sie zuvor sehen wollte, war mittlerweile bereits vorbei und es lief Werbung an dieser Stelle, also nahm sie sich die Fernbedienung vom Tisch und zappte wieder durch die Programme.»Schon wieder vor dem Fernseher«, bemerkte ihre Mutter. »Hast du für die Schule schon alles erledigt?«
Wie denn, wenn ich ständig gestört werde? Ich wollte mich doch nur kurz ablenken. Hat man hier denn nie seine Ruhe?
Marie sprach ihre Gedanken jedoch nicht aus. Sie wollte nicht unnötig eine Diskussion anfangen. Dazu fehlte ihr momentan die Kraft.
»Hallo? Ich rede mit dir«, verlangte ihre Mutter etwas energischer nochmal eine Antwort.
»Ja«, entgegnete Marie genervt.So war das Thema fürs Erste erledigt und Marie konnte sich weiter auf den Fernseher konzentrieren. Da allerdings nichts Interessantes mehr lief, schaltete sie ihn ab und verschwand in ihrem Zimmer, wo sie die restliche Zeit bis zum Abendessen an ihrem Handy verbrachte.
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Schweigen - Aufbruch
Teen FictionMarie kann nicht immer sprechen. Von klein auf hatte sie nur wenige Freunde; saß im Kindergarten oder in der Grundschule meist alleine zurückgezogen in einer Ecke. Anfangs wurde es als Schüchternheit abgetan und ignoriert. Doch es änderte sich nich...