Kapitel 1.03 - Mathe

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Wie an jedem Morgen eines Schultages wartete Jasmin auch an diesem Montag in der zweiten Schulwoche nach den Sommerferien am Busbahnhof, um gemeinsam mit Marie zur Schule zu gehen.
»Morgen«, begrüßte sie Marie lächelnd, als diese aus dem Bus ausstieg. 

Nachdem die Deutschlehrerin, welche gleichzeitig auch Geschichte in Maries Klasse unterrichtete bereits bemerkt hatte, dass Marie im Unterricht nicht sprach, war der Mathelehrerin noch nichts aufgefallen. Zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Marie hatte sich bisher zwar noch nicht mündlich beteiligt, war damit jedoch nicht die Einzige in der Klasse. Sobald Frau Hammer sie nach der Lösung einer Aufgabe fragen sollte, nahm sie sich vor, zu antworten. Mathe war auch ein Fach, in dem die Antworten für gewöhnlich kürzer waren und keine Interpretationen oder Meinungen erforderten. Es gab nur die zwei Möglichkeiten – richtig oder falsch. Gut, es bestand immer eine fünfzigprozentige Chance, dass sie etwas Falsches sagen würde, was ihren Herzschlag in die Höhe schnellen ließ. Aber da die Lösung meist kurz war, würde es vermutlich nicht zu sehr auffallen. Einige Schüler würden es sicher nicht einmal mitbekommen, da sie dafür zu wenig im Unterricht aufpassten. Zudem war Marie gut in Mathe, zumindest in dem Themenbereich, der gerade behandelt wurde. 

Auf dem Weg zur Schule redete nur Jasmin. Marie hatte seit letzter Woche kein Wort mehr mit ihr gesprochen, auch nicht, wenn sie alleine waren. Niemand konnte sagen, wie lange der Kontakt – und ob er überhaupt – so halten würde. Die Angst, Jasmin zu verlieren, war immer präsent. Jederzeit konnte es passieren. Marie versuchte daher, immer so freundlich zu lächeln, wie es nur ging. Nie sollte sie das Gefühl bekommen, Marie hätte das Interesse an ihr verloren. Oder schlimmer, sie wäre eine eingebildete Göre, die sich für etwas Besseres hielt. 

Die Mathestunde nach der Pause begann wie immer. Zuerst wurden die Hausaufgaben besprochen, die Marie natürlich vorbildlich erledigt hatte. Niemand sollte denken, dass sie, aufgrund der Tatsache, dass sie nicht sprach, von irgendwelchen Pflichten befreit würde. Das hätte sie nie gewollt. Ein normales Mädchen wollte sie sein. Die Schulzeit so erleben wie alle anderen auch. Doch niemand wusste, ob sie diese Stunde unbemerkt durchkommen würde oder ob es der Moment der Wahrheit wurde.
Beim Vortragen der Hausaufgaben war Marie auch heute nicht an der Reihe. Einerseits war sie erleichtert, andererseits wollte sie die Chance, etwas sagen zu können, nicht verpassen. Die Hausaufgaben waren eine ideale Gelegenheit hierfür, da sie die Antworten bereits auf dem Papier stehen hatte. Was hätte einfacher sein können?
Jetzt hieß es aber: Immer am Ball bleiben und bloß nicht ablenken lassen. Sie musste schnell mitrechnen, sodass sie für den Fall der Fälle gerüstet war und eine Antwort parat hatte. Sie konnte nicht noch eine Gelegenheit liegen lassen, nun da Deutsch und Geschichte bereits verloren waren. Außerdem sollte es so bald wie möglich passieren, da Frau Mertens jederzeit allen Lehrern erzählen konnte, dass Marie nicht spräche.
Wenn es erst mal alle wissen, ist es vorbei. Dann kann ich die nächsten vier Jahre nur noch aussitzen und hoffen, dass ich so einen Ausbildungsplatz finde und dort nochmal neuanfangen. Nein, darauf darf ich nicht spekulieren. Es darf gar nicht erst so weit kommen. JETZT muss sich etwas ändern. Ich schaff das schon.
Frau Hammer rief sie auch diesmal nicht auf und so verging eine weitere Stunde, in der Marie unsichtbar in der letzten Reihe des Klassenzimmers mit der Wand verschmolz. Oder wusste die Lehrerin längst Bescheid? Dieses Gefühl begleitete Marie immer und in jeder Stunde bei jedem Lehrer.
Was, wenn es längst zu spät ist? Sie hat es bestimmt schon allen erzählt. Wahrscheinlich hängt im Lehrerzimmer ein Marie-spricht-nicht-Schild für jeden Lehrer, der einmal einen Fuß in unser Klassenzimmer setzt. 

Auf dem gemeinsamen Weg zum Bus nach Schulschluss sprach Marie, wie zu erwarten, nicht. Sie gingen stumm nebeneinanderher, bis Jasmin ihr etwas mitteilte.
»Ich hab am Samstag Geburtstag und wollte dich fragen, ob du Lust hast zu kommen.«
Diese Nachricht kam völlig unerwartet für Marie. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte; nicht, dass sie etwas sagen hätte können, wenn sie es gewusst hätte.
Eine Einladung? Ich wurde seit zwei Jahren auf keine Geburtstagsparty mehr eingeladen.
Marie schluckte. Ihre Augen wanderten immer wieder von Jasmin auf die Straße, um ihrem erwartungsvollen Blick auszuweichen, dann aber wieder zurück, um nicht desinteressiert zu wirken.
»Schreib mir einfach auf WhatsApp«, beendete Jasmin die Situation fürs Erste. 

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt