Kapitel 1.06 - Das Beratungsgespräch

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Es war noch ein Tag bis zum Gespräch. Marie zählte schon die ganze Woche lang jeden Tag runter. 

In der Schule ging sie alles ganz gelassen an. Sie erwartete nichts mehr. Jeder Lehrer würde es jetzt sowieso schon wissen. So saß sie auch in dieser Mathestunde in ihrer typischen Pose am Tisch. Ihre rechter Arm war angewinkelt, die Hand stützte dabei ihren Kopf, die Finger angezogen Je weniger man hofft, desto eher passiert es, heißt es immer.
Und tatsächlich. Was Frau Hammer an diesem Tag sagte, kam Marie wie ein Traum vor. Jetzt wo sie bereits aufgegeben hatte, weil augenscheinlich alle Lehrer bereits über sie Bescheid wussten, fallen diese Worte.
»Marie, du bist auf der rechten Seite.«
Ein Tag vor dem Gespräch. Das kann kein Zufall sein. Ich beweis ihnen, dass ich es kann, dass ich will.

Marie drehte sich nochmal kurz zu Jasmin, die ihr zulächelte. So, als ob sie das als Zustimmung brauchte, stand sie sodann auf und ging nach vorne hinter die rechte Seite der Tafel. Sie stand so, dass sie die Blicke der Klassenkameraden nicht sehen musste. Als beide bereit waren, diktierte Frau Hammer zuerst die Aufgaben, anschließend hatten sie eine Viertelstunde Zeit, diese zu lösen. Marie rechnete die Tafel von oben bis unten durch und war bereits vor Ende der Zeit damit fertig.
Wie viele Minuten sind es noch?
Ein kurzer Blick auf die Uhr hinter ihr. Marie konnte allerdings nichts erkennen, da sie zu nah dran war. Um die Uhr lesen zu können, hätte sie die Tafel ein Stück nach vorne klappen müssen. Das wiederum hätte die Klasse mitbekommen. So blieb Marie nichts anderes übrig, als zu warten. Sie ging ein weiteres Mal über die Aufgaben drüber; und noch einmal, und noch einmal. Solange bis Frau Hammer die erlösenden Worte sprach, »so, die Zeit ist um« und die beiden Auserwählten zurück an ihre Plätze verwies, während sie die Tafelhälften schloss, sodass alle Schüler die Ergebnisse sehen konnten. Marie fielen sogleich die unterschiedlichen Lösungen bei zwei der zehn Aufgaben auf.
Meins ist bestimmt falsch – und alle sehen es. Was mach ich jetzt?
»So, dann schauen wir mal, was die beiden da gerechnet haben«, begann Frau Hammer mit der Kontrolle, »wir sehen schon mal zwei unterschiedliche Ergebnisse. Das wird auf jeden Fall spannend.«
Marie folgte der Korrektur höchstkonzentriert, rechnete aber immer wieder die beiden Aufgaben nach, genau nach den Rechenschritten aus dem Unterricht – immer mit demselben Ergebnis.
Das muss richtig sein. Oder übersehe ich doch etwas? Was ist jetzt nur richtig? Mach etwas schneller, bei den anderen Ergebnissen bin ich mir sicher. Ich brauch die Antwort für diese beiden.
Als die Lehrerin endlich bei den beiden Aufgaben ankam, stieg der Puls bei Marie.
Was wenn es doch falsch ist?
»Und deswegen ist die Lösung von Marie richtig«, hörte sie die Lehrerin nach einer Weile Rumgerechne schließlich sagen.
Ich wusste es doch. ... Was denken jetzt aber die anderen von mir, wenn ich das gewusst habe, was anscheinend schwieriger war? Wieso wusste ich etwas, was andere nicht wissen? 

»Das war richtig gut heute in Mathe«, hob Jasmin Maries Leistungen nach dem Unterricht auf dem Weg zum Bus hervor. »Dafür, dass du Mathe nicht magst, bist du ziemlich gut darin.«
Ganz vergessen. Ich hab ja damals gesagt, dass ich Mathe nicht mag. Wie soll ich aber erklären, was ich eigentlich gemeint hab?

***

Noch etwa fünf Stunden, dann ist Abend. Nach weiteren drei Stunden ist es Zeit fürs Bett; und am Morgen ist er bereits da, der Tag des Gesprächs.
Marie wurde immer nervöser, ließ es sich aber nicht anmerken. Nicht in der Schule, nicht vor Jasmin und auch nicht zuhause vor ihren Eltern oder ihrem Bruder. Nach den Hausaufgaben blödelte sie mit ihrem Bruder rum, zockte mit ihm am PC oder auf der Konsole. Wenn es im Haushalt etwas zu tun gab, so half sie auch dort mit. So viel, wie es ein fast dreizehnjähriger Teenager eben tun würde. 

Ehe sie sich versah, war es auch schon Abend. Nach dem Abendessen verbrachte sie die restliche Zeit, bevor sie Schlafen ging, auf YouTube. Als Ablenkung vor dem morgigen Tag. Um 22 Uhr schaltete sie ihren Laptop schließlich aus und machte sich bettfertig. Nachdem sie sich ins Bett gekuschelt und die Augen geschlossen hatte, grübelte sie allerdings noch eine ganze Weile über den morgigen Tag, bevor sie endlich einschlafen konnte.
Ich will Morgen nicht erleben. Was, wenn die Lehrerin mich in der Schule darauf anspricht? Wahrscheinlich stehe ich wieder unter besonderer Beobachtung.

Schweigen - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt