Kapitel 5 - Belastungssituation

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Die ganze Nacht lang hatte Sam kein Auge zugetan. Immer und immer wieder spielte sich die Situation vor seinem inneren Auge ab, auch jetzt noch, um fünf Uhr am nächsten Morgen. Das Geräusch, als die verdammte Puppe auf der Motorhaube seines Autos gelandet war, hallte noch in seinem Kopf nach. Hartplastik auf Blech. Es hatte sich so echt angehört. Wirklich, Sam hatte geglaubt, dass ein Mensch auf seiner Motorhaube gelandet sei.

Dieser Mist, der passiert war, würde jetzt garantiert Wasser auf Connys Mühlen sein. Jetzt würde sie allen Grund haben, mahnend den Zeigefinger zu heben, jedes Mal, wenn Sam auch nur eine Spur schneller fuhr als vorgeschrieben. Dabei war Sam doch gar nicht schuld gewesen, wenn man es genauer betrachtete. Tatsache war, dass da jemand die Puppe aus dem Gebüsch heraus auf ein fahrendes Auto geworfen hatte. Der, der das getan hatte, war doch der Übeltäter. Ja, Sam war zu schnell unterwegs gewesen, das stimmte. Aber eine Puppe in den Straßenverkehr zu werfen war doch viel schlimmer ...

Jedes Mal, wenn Sam sich in seinem Bett umdrehte und versuchte, es zu vergessen, drängten sich die Erinnerungen nur noch penetranter in den Vordergrund. Die Szene spielte sich immer und immer wieder ab, in den grellsten und schlimmsten Farben. Mal schneller, mal langsamer. Sam konnte sich nicht mehr richtig daran erinnern, wie er Conny nach Hause gefahren hatte. Es war, als sei seine Erinnerung daran ausradiert.

Im Flur schepperte jetzt schon seine Mutter herum. Die Frühaufsteherin war nicht besonders gut darin, Rücksicht auf jene zu nehmen, die gerne länger schliefen. Sie stand morgens um fünf Uhr auf und ging direkt nach dem Frühstück den Tätigkeiten nach, nach denen ihr der Sinn stand. Und wenn das bedeutete, dass sie um fünf Uhr in der Früh mit dem Staubsauger durch die Wohnung ratterte, dann war es um Sams Schlaf geschehen.

In spätestens zwei Stunden würde sie ihn aufwecken. Wozu eigentlich, das war Sam nicht klar. Er gehörte zu den Leuten, die nach dem Abi 'erst mal nichts' machten. Es gab folglich keinen Grund für ihn, vor zehn Uhr das Bett zu verlassen, aber seine Mutter war da anderer Meinung.

Es würde allerdings keine zwei Stunden mehr brauchen, bis Sam das Bett verlassen müsste, denn seine Blase drückte. Er würde aufstehen müssen und auf die Toilette gehen und seine Mutter würde sich wundern, dass er so früh schon wach war. Allein das war schon verdächtig. Von gestern Abend würde er ihr aber nichts erzählen. Nicht nur, dass es sie aufregen würde, sie würde ihm auch Vorwürfe machen. Sie würde ihn mit traurigen Augen anschauen und den Kopf schütteln. Er würde ihr förmlich ansehen können, wie enttäuscht sie dann wäre.

Sam schlurfte auf den Flur, wo seine Mutter sämtliche Schuhe aus der Kommode ausgeräumt hatte, um selbige auszuwischen. Sie selbst befand sich gerade im Wohnzimmer und bearbeitete dort mit dem Staubsauger den flauschigen Teppich. Sie wird mich über den Staubsauger hinweg bestimmt nicht gehört haben, dachte sich Sam. Auf dem Rückweg von der Toilette in sein Zimmer, fing seine Mutter ihn dann aber doch ab.

"Na, der Herr. Habe ich die Ehre mit Ihnen?", fragte sie und stemmte ihre Hände in die schmalen Hüften. Heute trug sie eines ihrer Baumwollkleider, wie immer im Sommer. Es war weiß und etwa knielang. So weiß wie ihre Haare und das, obwohl sie noch keine vierzig war.

"Ja ...", murmelte Sam und wandte sich wieder ab, um zurück in sein Zimmer zu gehen. Er fühlte sich, als drücke ein großer Stein in seinen Magen.

"Hey, hey, hey, nicht so schnell, mein Freund", lenkte sie ein und erwischte ihn am Arm.

"Was ist?", fragte Sam.

Seine Mutter griff nach einem Briefumschlag, der auf der Kommode lag, die sie ausgeräumt hatte.

"Wieder ein Gruß aus dem Verkehrsamt", erwiderte sie und schaute Sam tadelnd an. Die Briefe kannte sie schon. 

"Ich zahl sie ja selber", murmelte Sam müde.

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