Kapitel 9 - Begegnungen

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Hofgang. Der strikt geregelte Tagesablauf machte auch vor Sam nicht Halt. Du darfst essen, wann sie es sagen, du darfst raus, wann sie es sagen, du darfst telefonieren, wann sie es sagen, dachte er mit ohnmächtiger Wut, die mit einer Stromstärke von dutzenden Ampere durch seine Arme und Beine strömte und in seiner Magengegend kulminierte. Er befand sich auf dem Weg nach draußen. So wie einige andere der Gefangenen.

Ja, wie die anderen Gefangenen. Sam war jetzt einer von ihnen. Dass das so schnell gehen konnte, hätte er vorher nicht gedacht. Wenn du etwas Böses tust, dann schnappt dich die Polizei und steckt dich ins Gefängnis, ging es ihm durch den Kopf. Das hatte er von irgendwem gehört, als er noch ein Kind gewesen war. Nur wollte ihm nicht einfallen, wer das gesagt hatte. Aber es war doch auch egal. Nein, er hatte nichts Böses getan, aber die Polizei hatte ihn trotzdem geschnappt und ins Gefängnis gesteckt. Die Besucher in Blau hatten es ihm erklärt: es handelte sich um ein Offizialdelikt, bei dem der Staatsanwalt per se ermittelt. Ohne vorherigen Antrag durch die Geschädigte. Und da Sam ja auch der Flucht vom Tatort bezichtigt worden war, lag der Schluss für die Exekutive wohl nahe, dass er es nochmal tun würde, weshalb man ihn lieber hinter Schloss und Riegel wusste.

Es waren ausschließlich Leute bis vierundzwanzig Jahre, die hier waren, aber manche von ihnen sahen schon so kaputt aus, als hätten sie drei Leben hinter sich. Einer, der einige Meter vor Sam ging, hatte Tattoos vom Hals abwärts über die Schultern und Arme bis zu den Handgelenken. Gemächlich schlenderte er den Gang entlang und ließ seinen Blick schweifen, als sähe er alles hier zum ersten Mal. Ein anderer sah aus wie ein Bürokaufmann mit seinem sorgsam gescheitelten Haar und der rahmenlosen Brille. Hier wirkte er vollkommen fehl am Platz. Vielleicht ist er auch unschuldig hier drin eingekerkert, mutmaßte Sam und nahm sich vor, ihn später auf dem Hof anzusprechen.

Die frische Luft brandete Sam entgegen, aber er hatte zu keiner Sekunde das Gefühl, frei zu sein. Die grüne Rasenfläche erinnerte ihn zwar an den gepflegten Garten bei Conny zuhause, aber die hohen Zäune mit dem Natodraht holten ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück. Die ganzen Männer in ihrer grauen Kluft machten das Bild des Grauens perfekt. Sam dachte unwillkürlich an das Buch mit Wimmelbildern, das er als Kind besessen hatte. Finde den Unschuldigen, ging es ihm durch den Kopf.

Sam lief ziellos eine Runde umher, immer am Zaun entlang, den Blick aber zum Hof gekehrt. Er beobachtete die anderen. Was taten sie? Welche Gruppen gab es? Dabei achtete er darauf, nicht zu auffällig zu schauen, nicht, dass er noch jemanden provozierte. Er hatte nicht vor, hier länger zu bleiben als nötig. Er musste sich keine Freunde machen, aber eben auch keine Feinde.

Sein Selbstbewusstsein und seine zugegebenermaßen recht große Klappe waren Sams Aushängeschilder, aber hier würde er damit erst einmal hinter den Berg halten. Die Lage sondieren, dann entscheiden. Schauen, beurteilen, reagieren. 

Am gegenüberliegenden Ende des Hofs erkannte Sam den jungen Mann, den er für einen Bürokaufmann gehalten hatte. Er hatte sich auf eine Bank gesetzt und saß gebeugt, den Kopf auf den Händen abgestützt, da. Ob er sich gerade viele Gedanken machte, so wie Sam? Womöglich war er schon einiges länger hier. 

Betont gelassen steuerte Sam auf den jungen Mann zu. So, als würde er gar nicht direkt zu ihm wollen. Er ließ sich am anderen Ende der Bank nieder und lehnte sich zurück, als würde er sich einfach nur die Sonne ins Gesicht scheinen lassen wollen. Als der vermeintliche Bürokaufmann ihn auch nach einigen Minuten nicht bemerkte, sondern ungerührt in seiner Position verharrte, sagte Sam mit unverbindlichem Tonfall: "Hey."

Der junge Mann schaute auf, erblickte Sam und fragte tonlos: "Was ist?"

Seine Stimme klang müde. Sein Gesicht sah von nahem und vor allem hier draußen bei Tageslicht einiges härter aus. Plötzlich, aus einem spontanen Impuls heraus, bereute Sam, ihn angequatscht zu haben.

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