"Du hast doch keine Schuld. Was meinst du, wie oft ich es ihm gesagt habe. Und Danny. Es hat doch nichts gebracht", sagte Conny und suchte Blickkontakt zu Irene. Die hatte ihre Augen fest auf die hellblaue Wachstischdecke auf dem Küchentisch gerichtet. Conny beschlich das Gefühl, Irene habe das, was sie eben gesagt hatte, gar nicht wahrgenommen, denn sie reagierte nicht darauf. Sie starrte weiter auf die Tischdecke.
"Sam ist eben ...", setzte Conny wieder an, wurde aber diesmal energisch von Irene unterbrochen.
"Was ist er? Ein unverbesserliches, naives Kind! Ich kann dir die Briefe zeigen. Er hat sie in den Papierkorb geworfen, weil er nicht wollte, dass ich sie sehe. Dass ich nicht sehe, wie sehr er die Höchstgeschwindigkeit überschreitet. Immer hat er beteuert, es handle sich nur um ein paar Kilometer pro Stunde. Es sei nichts Großes. Dabei scheint es bei ihm mehr die Regel als die Ausnahme zu sein, innerorts siebzig zu fahren!"
Aus trüben und zugleich ängstlichen Augen sah Irene Conny starr in die ihren. In diesen Augen erkannte Conny die Mutter ihres Freundes nicht wieder. Es war eher, als würde sie in die Augen eines Hasen blicken, der dem Jäger gegenüber stand und keine Fluchtmöglichkeit mehr hatte. Conny tat es weh, sie so zu sehen. Als sei für einen Moment Irene nicht mehr Irene, sondern nur noch eine vor den Schrecken der Welt verzerrte Maske.
Conny spürte, dass es keinen Sinn haben würde, beruhigende Worte an sie zu richten. Alles würde an ihr abprallen. Diese dunklen Augen, die so voller Angst und gleichzeitig doch so leer waren, ließen daran keinen Zweifel. Um ihrem Blick zu entgehen, schaute Conny hinab auf ihre rosafarbenen Fingernägel. An einer Stelle war etwas von dem Nagellack abgesplittert. Normalerweise hätte sie den Lack zuhause direkt erneuert. Aber für solche Kleinigkeiten hatte sie jetzt keine Nerven.
Nach Hause. Conny spielte mit dem Gedanken, sich zügig zu verabschieden, um dieser angespannten Situation zu entkommen. Sie wollte die neuen Informationen in Ruhe verarbeiten. Andererseits wollte sie die verschreckte Frau ungern alleine lassen. Eine Weile lang blieb sie einfach sitzen und ließ ihren Blick durch die Küche wandern, auf der Suche nach einem Punkt, an dem sie sich festhalten konnte.
"Entschuldige ...", murmelte Irene plötzlich und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ihre Haare flogen genauso fusselig um ihren Kopf wie die von Sam, wenn er sie offen trug.
"Nein, wofür denn?", fragte Conny.
"Ich bin ganz durch den Wind. Ich muss dem Jungen jetzt einen Anwalt besorgen. Sei mir nicht böse, aber mein erster Gedanke war, ... wie sage ich das jetzt? Ich denke, dass es sowieso nicht viel bringt. Es hat Zeugen gegeben, die ihn gesehen haben. Das Kind ist also schon in den Brunnen gefallen. Was soll da jetzt noch ein Anwalt ausrichten? Versteh mich nicht falsch, er ist mein Sohn. Natürlich werde ich alles tun, um ihm zu helfen. Aber ... ach, ich weiß auch nicht ..."
Conny saß starr am Küchentisch und versuchte aus Irenes Gesicht abzulesen, wie sie das eben Gesagte gemeint hatte. Ob das wirklich ihr purer Ernst war. Hatte sie denn ihren eigenen Sohn schon aufgegeben? Viel Kampfgeist sprach weder aus ihrer Mimik noch aus ihrer Körperhaltung. Mit schlaff herunter hängenden Schultern saß sie da, mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn.
"Sag doch so etwas nicht! Meinst du nicht, dass es sein kann, dass Sam es gar nicht gewesen ist? Dass es vielleicht auch nur ein Missverständnis war?", gab ihr Conny zu denken und bemühte sich, einen ehrlich hoffnungsvollen Ton in ihre Stimme zu legen.
Irene wiegte den Kopf hin und her. Sie schien die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, das Für und Wider abzuwägen und erwiderte dann: "Aber wie erklärst du dir dann die Delle auf der Motorhaube? Eindeutiger geht es doch gar nicht."
Wenn du wüsstest, dachte Conny bitter. Sollte sie es sagen? Wäre Sam böse, wenn sie es sagen würde? Eindringlich hatte er sie gebeten, dicht zu halten. Wenigstens ein Jahr zu warten. Damit sie sehen konnte, dass nichts passieren würde. Aber jetzt hatte sich die Situation geändert. Es war etwas passiert. Zwar schien dieser Vorfall nicht mit dem Schaufensterpuppen-Unfall zusammen zu hängen, aber dennoch hatte der eine Unfall indirekt etwas mit dem anderen zu tun. Der gemeinsame Punkt war die beschädigte Motorhaube.
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Höchstgeschwindigkeit
Mystery / ThrillerDer vor Selbstbewusstsein strotzende Sam hat neben der Liebe zu seiner Freundin die Leidenschaft fürs Rasen. Vollgas zu geben und den Fahrtwind rauschen zu hören, sind die Dinge, die er braucht, um von seinen Sorgen loslassen zu können. Blitzerfotos...