Kapitel 18 - Anrufer

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Es herrschte wieder Schweigen zwischen Ella und Conny, das diesmal jedoch von einem Geräusch unterbrochen wurde. In Connys Hosentasche machte ihr Handy mit allen Mitteln auf sich aufmerksam, indem es vibrierte und klingelte. Sie war genervt darüber, dass ausgerechnet jetzt jemand etwas von ihr wollte. Ausgerechnet jetzt, wo sie wirklich keine Lust hatte, mit irgendwem anderes zu reden. Sie war gerade mit ihrem eigenen Problem beschäftigt und jetzt rief irgendwer von Außerhalb an und wollte sie behelligen. Als ob sie gerade Nerven für die Belange anderer hatte.

Dennoch wollte sie wissen, wer hier meinte, stören zu müssen. Sie würde das Handy dann einfach klingeln lassen oder den Anruf wegdrücken. Später, wenn sie sich etwas mehr gefasst hatte, würde sie vielleicht zurückrufen. Vielleicht. Aber möglicherweise würde sie es bis dahin auch einfach vergessen, weil dieses andere Problem wie ein Ballon war, der sich immer und immer weiter aufblies und allmählich den ganzen Raum einnahm. Conny hockte in einer Ecke, in die sich der Ballon noch nicht ausgebreitet hatte, aber es würde bald soweit sein, denn der Ballon wurde immer voller und hörte nicht auf, zu wachsen. Er würde irgendwann platzen, spätestens dann, wenn er keinen Raum mehr hatte, sich auszubreiten. 

Sie zog das Handy aus ihrer Hosentasche heraus und konnte nicht glauben, wessen Namen sie da auf dem Display las. Dabei war dieser Moment nicht so, wie sie es immer in Büchern gelesen hatte. Wenn die fiktiven Figuren dort in einer vergleichbaren Situation waren, dann las man manchmal, dass ihnen das Handy vor Schreck beinahe aus der Hand gefallen wäre. Bei Conny war es aber eher genau das Gegenteil; ihre Finger schlossen sich fester um das immer noch piepsende Gerät und ihre Augen fixierten den Namen, der auf dem Display aufleuchtete, aber es war, als traue sie ihrer Wahrnehmung nicht. Ihr Herz jubelte, aber ihr Hirn sendete ein rot leuchtendes Warnsignal.

"Es ist Sam", sagte sie zu Ella. Conny ließ ihre Augen dabei keine Sekunde von dem Bildschirm. Sie starrte auf das leuchtende Display, als hätte dieses gerade angefangen zu brennen.

"Los, geh ran", sagte Ella, stand von der Bank auf und entfernte sich ein paar Meter, damit Conny in Ruhe telefonieren konnte. Conny nahm das gar nicht wirklich wahr. Sie tippte auf den grünen Hörer und atmete flach. Sie sagte kein Wort. Vielleicht erlaubt sich auch einfach nur jemand einen gemeinen Scherz, ging es ihr durch den Kopf. 

"Conny?", kam die geliebte Stimme vom anderen Ende.

"Sam ...", murmelte Conny.

"Alles in Ordnung mit dir?", fragte Sam besorgt. War Conny schon wieder dabei, in die Hysterie abzudriften? Hörte man es ihrer Stimme schon an? In letzter Zeit machten sie alle Geschehnisse, die sich rund um Sam abspielten, einfach nur fertig. Ja, sie war ein sensibler Mensch. Aber in so einer belastenden Situation war sie noch nie vorher gewesen. War es da nicht normal, dass man so reagierte?

"Ja. Was ist mit dir?", fragte Conny. Ihr fiel keine bessere Frage ein. Sie hätte fragen wollen, warum er von seinem Handy aus anrief, da man es ihres Wissens nach im Gefängnis abgeben musste. Sie wollte fragen, was sich bei ihm in den letzten Tagen zugetragen hatte. Sie wollte ihm mitteilen, dass seine Mutter mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus gekommen war. Sie wollte ihm sagen, dass sie mit der Geschichte mit der Schaufensterpuppe nicht zur Polizei gegangen war. Sie wollte fragen, ob es ihm gut ginge und sie wollte fragen, was um alles in der Welt eigentlich zur Zeit um sie herum passierte, das sie wie einen Spielball des Universums in die wildesten Geschichten katapultierte.

"Ich komme nach hause! Ich sitze gerade im Bus. Wenn ich angekommen bin, dann werde ich dir alles erzählen", sagte Sam. Seine Stimme klang zuversichtlich und voller Energie. 

"Ja, bitte! Heißt das, du bist frei?", fragte Conny unnötigerweise, aber sie wollte ganz sicher gehen. Nicht, dass sie sich schon zu früh freuen würde. Es war schöner, von einer freudigen Nachricht überrascht als von einer schlechten Nachricht enttäuscht zu werden.

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