Für. Gegen. Conny schaute die beiden noch leeren Spalten der Tabelle an, die sie gerade angelegt hatte. Den Block aus ihrer noch nicht allzu lange in der Vergangenheit liegenden Schulzeit hatte sie aus der Schublade ihres voluminösen Schreibtischs geholt und nun lag er vor ihr und forderte, beschrieben zu werden. Aus dem selbst bemalten Glasbecher fischte sie sich einen der zahlreichen dort deponierten Stifte und dachte nach.
Zuerst Gegen. Was sprach gegen Sam? Oder besser gesagt, was sprach dafür, dass er die Frau überfahren hatte? Das war verwirrend. Wogegen sollte sie jetzt genau Argumente sammeln? Conny ergänzte über der Tabelle die Frage: Ist Sam unschuldig? Jetzt passte es. Also gut, Argumente gegen Sams Unschuld.
Dazu musste sie gar nicht lange überlegen. Conny schrieb auf: Sam ist ein Raser, zwei Zeugen haben ihn gesehen, Sam ist auch bei dem Unfall mit der Schaufensterpuppe einfach weggefahren. Beim letzten Punkt stutze sie. Konnte man denn dadurch wirklich darauf schließen, dass Sam auch eine lebende Frau schwer verletzt zurücklassen würde? Konnte Conny wirklich von dem Vorfall mit der Puppe darauf schließen, dass Sam sich der Frau gegenüber genauso verhalten hätte wie gegenüber einem Stück Plastik? Wohl kaum. Sie setzte den letzten Punkt in Klammern.
Jetzt Für. Welche Punkte würden Sam entlasten? Nun ja ... Conny klopfte mit dem Stift auf dem Block herum und dachte nach. Ihr fielen nur emotionale Argumente ein. Wie zum Beispiel der Klassiker: er würde so etwas nie tun. Das war das Einzige, das ihr dazu einfiel. Gab es denn sonst keine Beweise für seine Unschuld?
Conny ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen. Er blieb an der Staffelei mit der Leinwand hängen, die sie in die Ecke des Raumes gestellt hatte. Die Leinwand hatte Conny selbst bespannt und grundiert. Zum ersten Mal. Das Bild hatte etwas ganz Besonderes werden sollen. Es war so gut wie fertig. Nach dem Abi hatte sie viel Zeit gehabt, zu malen. Nur ein paar Details fehlten noch.
Das Bild zeigte Conny und Sam, beide zusammen, Hand in Hand auf dem Feldweg. Hinter ihnen die müde Abendsonne, die noch ein paar Momente lang ihr weiches Licht schenkte, ehe sie sich für diesen Tag verabschiedete und der Mond die Nachtschicht übernahm. Die beiden lächelten sich gegenseitig an und wirkten so, als wären sie in diesem Augenblick nur zu zweit auf der Welt. Ein Augenblick des absoluten Glücks.
Dieses Motiv hatte sich Conny nicht selbst ausgedacht. Als Vorlage hatte sie ein Foto verwendet, das Danny von den beiden gemacht hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, denn es war nicht länger als ein halbes Jahr her. Es war das Ende eines langen Nachmittags gewesen, an dem sich Sam, Danny und Conny bei Sam zuhause zum Lernen verabredet hatten. Sie hatten alle zusammen versucht, sich die literarischen Stilmittel in den Kopf zu drücken, hatten Lernkärtchen erstellt und sich gegenseitig abgefragt.
Als ihre Köpfe geraucht hatten und überhaupt nicht mehr aufnahmefähig gewesen waren, hatten sie beschlossen, den Tag mit einem Spaziergang zu beenden. Ein wenig frische Luft schnappen nach dem vielen Büffeln. So waren sie auf den nahegelegenen Feldweg gegangen. Danny hatte irgendwann sein Handy gezückt und das besagte Foto von Sam und Conny gemacht.
Das Foto suggerierte eine denkbar glückliche Beziehung frei von Sorgen. Die Leichtigkeit und der Optimismus strahlte förmlich aus den beiden lachenden Gesichtern. Wenn Conny das Bild jetzt betrachtete, dann kam es ihr vor, wie gemalter Zynismus. Sie hatte das Bild für Sam gemalt, es sollte eine Überraschung zu seinem zwanzigsten Geburtstag werden, der in einem Monat sein würde.
In den Knast werde ich es dir wohl nicht schicken können, dachte Conny. Dabei wollte sie solche Gedanken eigentlich gar nicht erst kultivieren. Solche Gedanken waren Ausgeburten des Pessimismus, in dessen Fängen sie sich gerade befand. Insbesondere, wenn sie einen Blick auf die Für-Gegen-Liste warf, bei der die Für-Argumente sehr mager waren.
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Höchstgeschwindigkeit
Mystery / ThrillerDer vor Selbstbewusstsein strotzende Sam hat neben der Liebe zu seiner Freundin die Leidenschaft fürs Rasen. Vollgas zu geben und den Fahrtwind rauschen zu hören, sind die Dinge, die er braucht, um von seinen Sorgen loslassen zu können. Blitzerfotos...