Rechts und links zogen sattgrüne Bäume vorbei, die sich in den wolkenlosen Himmel zu strecken schienen. Das Thermometer zeigte achtundzwanzig Grad an. Das leise Rauschen der Klimaanlage konnte nicht das Lied übertönen, das aus dem Radio tönte. Gitarrenklänge mit einem Hauch von Lagerfeuerstimmung und ein Text, der den Sommer hochlobte. Alles zusammen genommen hätte man meinen können, der Sommer sei ewig. Als sei es immer schon Sommer gewesen. Beim Wechsel vom vierten in den fünften Gang ruckte der Wagen ein wenig.
"Gib ein bisschen Gas, wenn du den Gang wechselst, dann ist der Übergang sanfter."
"Alles klar."
Conny machte einen kurzen Blick zur Seite und grinste, ehe sie ihre Augen wieder auf die Landstraße vor ihr richtete. Hier und da waren ein paar Schlaglöcher und der kleine hellblaue Wagen schaukelte, wenn sie direkt in eines davon hinein fuhr.
"Du machst das gut", sagte Sam nach einer Weile und setzte sich ein wenig entspannter in seinem Sitz hin und setzte seine Sonnenbrille auf. Durch die getönten Gläser sah alles noch ein wenig sommerlicher aus. Alles bekam einen goldenen Weichzeichnereffekt und wirkte freundlicher, als es an diesem sonnigen Tag ohnehin schon war.
"Danke", erwiderte Conny und musste unwillkürlich grinsen. Sam sah das und konnte es auch nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht stahl. Nahm sie da gerade ein Kompliment zu ihrem Fahrstil von jemandem an, der bis zum letzten Jahr noch keinen Wert auf Verkehrsregeln gelegt hatte? Das Bild von Sam in einem Fahrschulauto drängte sich in seinen Kopf. Sam als Fahrlehrer, der den Fuß auf der Bremse hatte, anstatt auf dem Gaspedal.
Der kleine Kofferraum war fast bis nach oben hin vollgestopft. Auch auf der Hutablage hatte noch das eine oder andere Kleinteil Platz gefunden. Auf der Rückbank lag eine zusammengerollte Picknickdecke und eine Sechserpackung Mineralwasser. Das Wurfzelt, das sie sich gekauft hatten, steckte ganz unten im Kofferraum. Um an es heran zu kommen, würden sie alles wieder ausräumen müssen.
"Pass auf, da kommt noch so ein Schlagloch", warnte Sam sie und deutete nach vorne. Conny trat sachte auf die Bremse. Sam mochte es, auf der Landstraße zu fahren, aber hier waren Schäden am Straßenbelag alle paar Kilometer. So machte das Fahren sicher wenig Spaß. Vor allem dieser Wagen schien keine allzu guten Stoßdämpfer zu haben.
Sam sah aus dem Fenster nach draußen. Bald würden sie die nächste Großstadt erreicht haben. Nervös spielte er am Saum seines T-Shirts herum. Seine Hände waren rastlos und suchten nach einer Beschäftigung. Er öffnete das Handschuhfach und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Aus dem Augenwinkel sah Conny, was ihr Beifahrer vor hatte und protestierte.
"Nicht im Auto! Wir werden gleich anhalten, aber fang mir ja nicht an, im Auto zu rauchen!"
Ohne Widerworte steckte Sam die Packung in seine Hosentasche und richtete den Blick wieder auf die Straße, die vor ihnen lag. Dabei fiel sein Blick unwillkürlich auf etwas, das auf dem Armaturenbrett lag. Mehr oder weniger unwillkürlich, denn es lag dort wie auf dem Silbertablett. Ein Brief. Ein weißer, rechteckiger Umschlag, nichts Besonderes. Auf ihm klebte eine Briefmarke und der Empfänger stand in gedruckten Buchstaben darauf. Allerdings kein Absender.
Der Brief wog schwer in Sams Hand. Als sei ein Zentner Blei darin verpackt. Ein Zentner Blei komprimiert auf eine denkbar kleine Fläche. Sam hatte ihn nicht halten wollen und hatte ihn deshalb auf dem Armaturenbrett deponiert, wo er sich nun in der Windschutzscheibe spiegelte, wenn die Sonne günstig durch das Glas einfiel. Das bedeutete, dass Sam den Brief gleich zwei Mal sehen musste. Einmal das Original und einmal die Spiegelung. Es kam ihm vor wie Hohn.
Wenn Sam an das vergangene Jahr zurück dachte, dann hätte er den Ereignissen, die sich zugetragen hatten, keine Überschrift verleihen können, die alles in nuce zusammenfasste und dabei den Kern der Sache traf. Es war jetzt fast genau ein Jahr her, seitdem eine fliegende Schaufensterpuppe sein Leben verändert hatte. Fast ein Jahr, seitdem er kein Wort mehr mit seinem ehemaligen besten Freund Danny gesprochen hatte. Fast ein Jahr vergangen.
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Höchstgeschwindigkeit
Mystery / ThrillerDer vor Selbstbewusstsein strotzende Sam hat neben der Liebe zu seiner Freundin die Leidenschaft fürs Rasen. Vollgas zu geben und den Fahrtwind rauschen zu hören, sind die Dinge, die er braucht, um von seinen Sorgen loslassen zu können. Blitzerfotos...