Kapitel 11 - Morgenstund'

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In dem Moment, als die raue Stimme des Justizvollzugsbeamten ihn aus seinem leichten Schlaf weckte, wünschte sich Sam wieder seine Mutter und ihren bescheuerten Staubsauger zurück. Er öffnete widerwillig die Augen und sah das Grau vor sich, das er bereits nach seinem kurzen Aufenthalt schon so satt hatte. Außerdem hatte er ein flaues Gefühl im Magen.

Die Linsensuppe, die es gestern als Abendessen gegeben hatte, wollte anscheinend ihre Rückreise antreten. Dabei war es wahrscheinlich weniger das Essen an sich, als vielmehr der Gefühlscocktail aus seiner so bekannten Unsicherheit, gemischt mit Angst, verfeinert mit einem Schuss Ausgeliefertsein und gekrönt mit eisig kalter Hoffnungslosigkeit, die es in Sams Magen brodeln ließ.

Einen Moment lang überlegte er, einfach liegen zu bleiben. Das tat er zuhause immer, wenn ihn die Gefühle der unliebsamen Sorte übermannten. Wenn er sich hilflos und ausgeliefert fühlte. Wenn ihm alles einfach zu viel wurde. Dann blieb er einfach liegen in der Hoffnung, noch einmal von einer sanften Welle des Schlafs weggetragen zu werden.

Aber hier war es anders. Hier gab es einen geregelten Tagesablauf. Sam hatte gehofft, nach seiner Schulzeit den geregelten Abläufen entfliehen zu können. Stundenpläne, die einem sagten, wo man zu welcher Uhrzeit zu sein hatte. Lehrer, die einem sagten, was man bis zu welchem Datum zu lernen hatte. Wissen auf Zeit. Lernen, um es wieder zu vergessen. 

Zwischen den Stunden war die Fantasie aufgeblüht. Da waren Pläne gewesen, die im Raum gestanden hatten. Pläne, die er zusammen mit Conny geschmiedet hatte, die aber in dem Strudel des Alltags untergegangen waren. Irgendwie war nie wieder mehr die Rede davon gewesen, dass sie ja einen Roadtrip hatten unternehmen wollen.

Nur Conny und Sam zusammen auf der Straße. Er hatte ihr die Essenz der Freiheit auf vier Rädern zeigen wollen. Ihr ein Gefühl davon vermitteln, was es hieß, sich komplett dem Moment hin zu geben und das Brummen des Motors - den Herzschlag des Wagens - zu spüren. Es hatte vielleicht nicht sein sollen.

Mühsam rollte Sam sich schließlich vom Bett herunter und nahm das Tablett mit seinem Frühstück entgegen. Sein Nacken tat ihm weh, weil er zuhause ein weicheres Kissen gewohnt war. Er stellte das Tablett auf den kleinen Tisch gegenüber von seinem Bett und ließ sich auf dem Stuhl hin. Zuhause frühstückte er selten. Morgens konnte Sam einfach nichts essen. Dafür aß er dann aber immer vormittags zwischendurch einen kleinen Snack. Das würde er hier nicht haben können.

Also würde er das Frühstück irgendwie in sich hinein bekommen müssen. Sonst würde ihm hinterher noch vor Hunger schlecht werden. Das, was vor ihm auf dem Tablett lag, war zwar nicht sonderlich liebevoll angerichtet, aber es sah nicht so unappetitlich aus, wie er es erwartet hatte. Ein Fläschchen stilles Wasser, eine Scheibe Brot, eine Scheibe Käse, ein Apfel. Konnte man essen.

Sam trank zuerst einen Schluck Wasser. Sein Magen fing an zu gurgeln und protestierte über die Frechheit, dass Sam ihn nur mit der Flüssigkeit füttern wollte. Zögernd nahm er einen Bissen Brot. Er kaute es so lange, bis es anfing an, säuerlich in seinem Mund zu schmecken. Mit einem weiteren Schluck Wasser spülte er es hinunter, aber an seiner Mundschleimhaut blieb der unangenehme Geschmack haften.

Krampfhaft versuchte Sam, an etwas anderes zu denken. Das Bild von Conny und sich bei einem Roadtrip mit strahlend blauem Himmel über ihnen, dem glühenden Asphalt unter ihnen und den wummernden Bässen um sie herum, hatte ihn wehmütig gemacht. Mit unstetem Blick suchte er die Zelle nach etwas ab, das ihn auf andere Ideen brachte. Aber egal wohin seine Gedanken schweiften, nichts hatte das Potenzial, ihm ein einigermaßen gutes Gefühl zu geben. 

Die Zelle war so karg eingerichtet, dass es hier genauso schwer war, eine Ablenkung zu finden, wie einen Feigenkaktus in einem Tannenwald. Alles, an das er dachte, machte es eigentlich nur noch schlimmer. Seine Mutter, seine Freundin, er stellte sie sich alle vor, wie sie mit enttäuschten Gesichtern den Kopf schüttelten, wenn sie über ihn sprachen. Deshalb verwarf er das schnell und versuchte, sich auf seine Situation zu konzentrieren.

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