Man hatte die Leiche im Morgengrauen gefunden.
Sie war aufgequollen, starr und die Würgemale um den Hals blau verfärbt. Die Taschen waren von einer Gruppe hungriger Straßenkinder geplündert und der Hut von einem Trunkenbold gestohlen, trotzdem war der aufgeknüpfte Mann wohl die prächtigste Erscheinung im Proletenmoloch Rostograds, der Hauptstadt des gewaltigen Zarenreich Morokew.
Immerhin war die goldverzierte Uniform des Ministerialbeamten das einzige, was sich von der schmutzigen Gasse abhob.
Fast zumindest.Krabats Hand zerschnitt in einer schnellen Geste die Luft.
Sofort zerrte Wind an seinen Stiefeln und saugte einen blitzenden Gegenstand aus der undefinierbaren Masse aus Schnee und Ruß zu seinen Füßen hervor und wirbelte sie in seine behandschuhte Hand.Andächtig- als wolle er nicht das letzte Überbleibsel des Toten beleidigen, strich er den schlammige Schnee von der goldenen Taschenuhr.
Arkadij Wissarionowistch, verkündete eine grazile Gravur den Namen dieses Mannes. Direkt darunter prangte das Wappen, das auch Krabats rote Uniform zierte:
Der doppelköpfige Feuervogel der Zarendynastie.Krabat verzog automatisch die Lippen.
Scheinbar war es nämlich genau dieses Wappen gewesen, das dem Mann das Leben gekostet hatte.
Er wünschte sich, die feine Gravur wäre das einzige Schriftstück an diesem Ort, doch so war dem nicht.
Stattdessen setzte sein Hirn mühsam die Buchstaben zusammen, die im grellen weiß auf der Mauer hinter dem Toten geschmiert waren.Ihr lasst das Volk hungern, also fressen wir euch.
Nieder mit dem Zaren, es strahle der weiße Stern!Der weiße Stern. Die Belaja Swesda.
Das war alles, was er hierzu wissen musste.Augenblicklich wandte sich Krabat um und marschierte mit wehenden Mantel aus der Gasse.
Der Sremenik schnippt mit den Fingern - sofort krachte die rostige Gittertür hinter ihm zu.
Stattdessen schlug ihm ein Miasma aus Alkohol, Schweiß und Qualm entgegen.
Es war gerade einmal Nachmittag, trotzdem hätte es Abenddämmerung sein können.
Immerhin schien hier niemals die Sonne, zu dick war die Rauchkuppel der ständig glühenden Fabrikschlote.
Es war, als schäme sich der Ort seines Elend so sehr, dass er die Armut zu verstecken suchte.Krabat versuchte nicht hinzusehen.
Versuchte, sich nicht an das Leben zu erinnern, dem er erst vor wenigen Jahren entwicht war.
Doch er hatte niemals dem Gestank nach Blut, Metall und Fäulnis entkommen können. Auch nicht dem schreienden Kind in seinem Inneren.Natürlich gelang ihm das nicht.
Viel zu heiß brannten dafür die Blicke, die sich aus dem Zwielicht auf ihn legten.
Sei es die Gruppe aus Kindern, die am zugefrorenen Kanal hockten und mit abgenagten Knochen spielten. Seien es die Arbeiter, die sich schlaftrunken aus den Fabriken in ihre feuchten Kammern schleppten oder seien es die zwielichtigen Schemen im Schatten, denen ein artiger Bürger nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken sollte, wenn ihm sein Leben denn lieb war.
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Die Geißel von Valon
FantasyAls Magierin in der bruktischen Armee ist Zilli Palinquas ein einziges Schicksal vorherbestimmt: Sterben für die Sünden ihrer Ahnen. Genau das hat sie getan - und den Tod selbst betrogen. Doch als eine militärische Katastrophe ewige Feindschaften un...