10. Verlorenes Glück

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Alex wurde mit einem Ruck das Tuch vom Kopf gezogen, das ihr vor fünf Minuten darübergestülpt worden war und sie fand sich auf einer Wiese vor einem dunkelblauen Auto wieder. Die Ganoven waren nicht sehr lange weg gewesen, aber sobald sie wieder da waren, hatten sie die beiden Frauen gepackt, ihnen Tücher über den Kopf gezogen, sodass sie nichts sehen konnten und sie dann durch ein schier endloses Netz aus Gängen hierin und dahin geführt, bis Alex endlich wieder einen leichten Wind auf der Haut spüren konnte – sie hätte dazu schwören können, dass sie ein paar Mal hin und her und einmal sogar im Kreis gelaufen waren. Oder war ihr Orientierungssinn nach der Zeit im Keller einfach komplett hinüber? Jetzt blinzelte sie gegen die plötzliche Veränderung der Luftverhältnisse an und stellte fest, dass es mitten in der Nacht war oder zumindest sehr früh am Tag. Es waren kaum Naturgeräusche zu hören, lediglich eine Eule ließ kurz ihr schrilles Kreischen hören.

Alex bekam plötzlich von einem der Entführer einen Stoß in den Rücken und trat stolpernd näher an das Auto heran. Eine Tür wurde ihr geöffnet und sie musste sich auf den Sitz hinter dem Beifahrer setzen. Als ihre Hände beim Einsteigen die Sitzfläche berührten, zuckte sie zurück, ihre Finger waren feucht. Alex erstarrte mit einem Knie auf dem Rand des Sitzes und hielt sich die Hände vor die Augen, um etwas erkennen zu können. Ihre Fingerspitzen waren rot und erneut brannten Tränen in Alex‘ Augen. Gerrit musste eben noch hier gewesen sein. Er war hier gelegen, bevor sie ihn fortgebracht hatten. „Was habt ihr mit meinem Kollegen gemacht?“, fragte sie zum bestimmt achten Mal, doch wieder erhielt sie keine Antwort, dafür erneut einen groben Stoß in den Rücken. „Rein jetzt, Mädel. Und Hände her, mach keine Faxen, wir haben einen Zeitplan.“, raunte der Mann und zog Alex‘ Hände nach vorn, sobald sie aussah als würde sie sitzen. Sie hatte keine Zeit zu reagieren und mit einem metallenen Geräusch rasteten ihre Handschellen um ihre Handgelenke ein. Ihre Hände waren nun direkt hinter der Kopfstütze, die Kette der Handschellen hing zwischen den beiden Metallstangen und ihr Bewegungsradius betrug mit einem Mal gerade so fünfzehn Zentimeter. Links neben ihr wurde Malia ins Auto gewuchtet, ihre Hände waren weiterhin nur mit Stricken gefesselt, doch sie machte keine Anstalten zu flüchten. Alex sah der Frau an, dass sie Angst hatte. Das Gesicht war blass, die Augen waren rot und ihr Blick zuckte immer wieder nach vorn und wieder zurück auf die Waffen der Ganoven. Der längere der beiden Entführer nahm auf dem Fahrersitz Platz, der breitere daneben. Alex hoffte sie würde den Mann irgendwie stören können, doch er setzte sich so, dass ihre Finger nichts als das Polster der Kopfstütze erreichten. Alex beobachtete, wie der Ganove losfuhr und versuchte so an den Männern vorbeizuspähen, dass sie sehen konnte, wo sie sich befand. Leider saß sie so ungünstig, dass sie die Straßenschilder nicht schnell genug lesen konnte. Allerdings sah sie die kleinen Schrebergärten um sie herum und fragte sich kurz, welche dieser Anlagen wohl unterkellert war. Auch machte sie sich Sorgen darüber, was das für sie bedeutete, dass ihr die Augen nicht mehr verbunden wurden.

War es den Ganoven egal, ob sie erkannte, wo sie war, weil sie sowieso nicht mehr lange lebte? Oder weil sie ganz sicher waren, dass keiner von ihnen von dieser Reise zurückkehren würde? Sie kannte die Antwort nicht, aber die Ungewissheit machte sie nervös. Alex konzentrierte sich wieder auf die Straße, inzwischen fuhren sie auf einer Landstraße und da war das erste gelbe Schild, das sie lesen konnte: Ismaning. Eine Schrebergartensiedlung Nähe Ismaning, in der es einen Keller gab. Sie prägte sich diese Erkenntnis ein, war es doch ihre einzige Spur zu Gerrit. So kurz wie die Männer weg gewesen waren, hatten sie nicht die Möglichkeit gehabt ihren Kollegen weiter weg zu schaffen. Hoffentlich lebte er noch, wo auch immer er war. Inzwischen hatten sie sich über den Ring zur Zufahrt zum Flughafen geschlängelt und Alex musste sich sehr zusammenreißen, um nicht erneut zu fragen, was die Ganoven mit ihnen vorhatten. Erst als das Auto auf einen fast leeren Parkplatz auf dem Gelände des Flughafens fuhr, parkte und die Männer Anstalten machten aufzustehen, rutschte ihr die Frage heraus.

Wo ist Gerrit Grass?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt