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Wenn Menschen lügen, können ihre eigenen Worte gegen sie angewandt werden,
doch wenn sie die Wahrheit sagen, gibt es kein anderes Gegenmittel als die Gewalt.
Theodor Fontane
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Harper verließ das Gefängnis in einem Taxi und fühlte sich seltsam in dem grauen Sweatshirt und den Jeans, die sie ihr bei seiner Freilassung als Ersatzkleidung gegeben hatten. Ihre Augen reagierten empfindlich auf direktes Sonnenlicht, doch die dachte an nichts anderes als an Kate. Jetzt, da sie sich vorübergehend in Freiheit befand, würde sie sie vor George beschützen und herausfinden, was zum Teufel an jenem Abend passiert war.

Das Taxi brauste über den auf Pfeilern verlaufenden Teil der Schnellstraße, hinweg über verlassene Reihenhäuser und mit Graffiti besprühte Lagerhallen. Harper achtete nicht weiter auf den abschätzigen Blick des Fahrers im Rückspiegel, der natürlich wusste, wer sein Fahrgast war. Seine Feindseligkeit machte ihr nichts aus. Sie hatte Verständnis dafür, dass die Leute außerhalb des Gefängnisses nicht so scharf darauf waren, ihr die Hand zu schütteln. Das Leben als geständige Mörderin würde nicht leicht sein, aber das war ganz in Ordnung so.

Das Taxi erreichte die Stadtmitte innerhalb einer Stunde, und Harper dirigierte den Fahrer zu Wells Haus. Zu dem Haus, in dem sie einige Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Sie wusste nicht, was sie dort wollte, aber irgendwie zog es sie dorthin. Als das

Taxi davor hielt, blieb sie einfach sitzen, als käme sie gerade von einer Beerdigung und führe am Haus des Verstorbenen vorbei. Harper fühlte sich innerlich selbst wie tot; zumindest ein Teil ihres Lebens war gestorben.

Wells war tot, und sie hatte noch nicht einmal an seinem Begräbnis teilgenommen. Beschämt ließ sie den Kopf sinken. Der laufende Motor des Taxis brummte als Hintergrundgeräusch, während sie an ihn dachte. Sie trauerte um ihn, aber nicht um das Leben, das sie miteinander geführt hatten.

Höchstens konnte sie das Leben betrauern, das sie nach außen zur Schau gestellt hatten, doch wozu sollte das gut sein?

Sie sah aus dem Fenster auf sein Haus, dessen Vordertür kreuz und quer mit dem gelben Absperrband der Polizei versiegelt war. Niemand musste ihr sagen, dass sie nicht hineinkonnte und noch weniger, dass sie dort nicht mehr leben konnte. Alles, was sie nach der Trennung noch nicht abgeholt hatte, war dort drin, doch im Grunde hatte sie nie etwas davon besessen und all diese Dinge auch nie gewollt.

Die Sonne tauchte die Kolonialvilla in einen Millionen-Dollar-Glanz, so dass sie erstrahlte wie in einem Immobilienkatalog, aber Harper wollte sie nie wieder sehen.

Sie bat den Fahrer, sie zu einem Hotel zu bringen, und nannte ein Mittelklassehotel, in dem hauptsächlich Touristen abstiegen und keine Journalisten herumlungerten. Der Taxifahrer steuerte es wortlos an, und nach einer Viertelstunde waren sie da. Sie stieg aus dem Wagen, betrat das Hotel und schob ihre American-Express-Karte über den Tresen.

Die junge Frau an der Rezeption brauchte ihre Kreditkarte nicht erst zu lesen, um sie zu erkennen. Auf den Titelseiten der neben ihr aufgestapelten Zeitungen prangte ein vergrößertes Foto von ihr; ihr Gesicht war durch den Knick zweigeteilt, ihre Nase in fünfundzwanzigfacher Wiederholung zu sehen. Die junge Frau konnte nicht anders, als entsetzt auf Harpers wirkliches, malträtiertes Gesicht zu starren, das die Pressefotografen noch nicht erwischt hatten.

Harper ignorierte sie, denn sie musste sich beeilen. Kate war nicht an ihr Handy gegangen und sie war panischer denn je, dass der Mörder den sie zu fassen versucht und der ihren Exmann umgebracht hatte, nun auch ihre Schwester im Visier hatte. Schnell nahm sie ihre Schlüssel und die Karte in Empfang, eilte zum Aufzug und drückte den Knopf, wobei sie dasselbe merkwürdige Gefühl empfand, das schon der Anblick seines Hauses ausgelöst hatte. Sie fühlte sich von allem getrennt, als wäre die Verbindung zu ihrem eigenen Leben unterbrochen worden. Ihr Zuhause. Ihre Familie. Sherlock.

Sie versuchte, sein Bild im Gerichtssaal aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Er war ihretwegen dort gewesen, um sie zu ermahnen, die Wahrheit zu sagen, aber er verlangte Unmögliches, lebenslang Knast oder nicht. Sie durfte jetzt nicht daran denken.

Harper betrat den Aufzug, der geräumig war im Vergleich zu ihrer Isolationszelle. Wie war es möglich, dass sie innerhalb eines Tages von der Einzelhaft in ein Touristenhotel wechselte? Wie kam es, dass sie so schnell die Häftlingskleidung gegen ein Sweatshirt eingetauscht hatte? Das Gefühl des Abgetrenntseins erstreckte sich auch auf sie selbst, auf ihren eigenen Körper, als wäre dieser zu einem Kleiderständer geworden und als könnte sie ihre Identität wechseln wie Shirt oder Hose. Witwe. Rechtsanwältin. Mörderin. Die Aufzugtür öffnete sich, und sie stieg aus. Sie wusste nicht mehr, wer sie war, aber es war höchste Zeit, es herauszufinden.

Harper klopfte an die Tür des Reihenhauses aus Backstein, aber niemand öffnete. Obwohl es sehr kalt war, fror sie nicht in der Collegejacke, die sie im Andenkenladen des Hotels gekauft hatte. I LOVE LONDON stand quer über der Brust. Sie glaubte aber nicht, dass ihre alberne Jacke der Grund war, weshalb sie der kleine Junge auf dem Bürgersteig so anstarrte.

Sein stummer Blick verriet Harper, dass nicht viele Mörder auf Kaution in diesen Teil Londons kamen. Harper klopfte noch einmal und überprüfte die Hausnummer: 221b Baker Street. Es war Sherlocks Haus, die Adresse stand im Telefonbuch. Sie hatte angerufen und den Anrufbeantworter gehört, aber keine Nachricht hinterlassen. Sie wollte nichts tun, das darauf schließen ließ, dass sie nicht der Mörder war.

Erneutes Klopfen. Sie musste mit Sherlock sprechen, und zwar persönlich. Es war ein Risiko, aber sie würde es eingehen, weil Kate in Gefahr war. Sie hatte sie telefonisch nicht erreicht, nur eine Nachricht auf ihr Band gesprochen mit dem Namen des Hotels und der Bitte, sie so schnell wie möglich zurückzurufen.

Seitdem machte sie sich Sorgen darüber, wo und bei wem Kate sein mochte. Hoffentlich nicht bei George.

Harper hämmerte gegen die Tür, während sie dahinter eine Person auf sie zukommen hörte. Die schwarz Lackierte Tür öffnete sich. Dahinter zum Vorschein kam eine ältere Dame. Sie war etwa siebzig Jahre alt, trug eine hellrosa Strickjacke und ein sehr dunkles, violettes Kleid. Alles in allem war sie nicht ansatzweise das, was Harper erwartet hatte, anzutreffen.

»Er ist nicht da, Liebes«, sagte die ältere Frau. »Ich habe gesehen, wie er ein Taxi genommen hat.«

»Oh, danke.«

»Er ist ein Privatdetektiv.«

»Ich weiß.« Harper wandte sich von der Tür ab, ließ seinen Blick über den Häuserblock gleiten und ging die Stufen zum Gehsteig hinunter. »Ich glaube, ich werde auf ihn warten. Hätten Sie was dagegen, wenn ich bleibe?«

»Nein, natürlich nicht.« Sie setzte ein Lächeln auf, trat zur Seite, um Harper eintreten zu lassen und schien sich kein bisschen darüber zu scheren, dass Harper des Mordes angeklagt war. Und das nicht mitzubekommen, in einer Stadt wie London; Es gab nicht viel, was unmöglicher wäre, mit Ausnahme niedriger Mietpreise. »Tee, Ms Adams?«, fragte sie, als sie Harper hinauf in das Wohnzimmer Sherlocks führte. Die ältere Dame wusste also wer sie war.

»Gern.« Harper lächelte und setzte sich vorsichtig auf die Couch, um ein Gespräch mit dem einzigen Menschen in London anzufangen, der sie nicht allein mit Blicken schon töten wollten. In der Ecke des Raumes befand sich ein alter Kastenfernseher, der scheinbar nur als Hintergrundgeräusch diente, da die Lautstärke sehr niedrig war. Er zeigte die Eilmeldungen. Harper hätte es beinahe nicht einmal mitbekommen, doch genau in dem Moment, als sie ihren Blick abwenden wollte, kam eine neue Meldung herein. Der berühmte Sherlock Holmes und sein Partner John Watson waren gemeinsam mit einer Dritten Zivilperson von einem Schützen verfolgt worden. Und jene Zivilistin war ihre Schwester.

»Fuck.«

sherlock holmes und die verschwörung um harper adamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt