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Der Grund, warum Menschen zum Schweigen gebracht werden, ist nicht, weil sie lügen, sondern weil sie die Wahrheit reden.
Theodor Fontane
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Sherlock saß in dem Ohrensessel und starrte die Wand seines Wohnzimmers an. Er hatte sein eines Bein auf das Andere geschlagen, seine Ellenbogen auf den Armlehnen abgesetzt und die Hände gefaltet.

Selbst John, der am Morgen, nachdem sie gemeinsam mit Lestrade den Tatort besucht, hatten bei seinem ehemaligen Mitbewohner vorbeisah, konnte sich denken, dass Holmes sich seit Stunden in Gedanken versunken nicht bewegt hatte.

»Es ist der Ohrringstecker, nicht? Du zerbrichst dir gerade den Kopf wegen eines winzigen Ohrringssteckers. Vielleicht hat ihn ja nicht einmal einer der Adams Schwestern verloren?«

»Und was, wenn doch, John? Wieso sind alle um mich herum immer so naiv?«, zischte Sherlock und erhob sich aus seinem Sessel. Er wollte sich jetzt nicht unterhalten. Er warf einen Blick auf die hölzerne Uhr, die neben dem Schädel auf dem Kaminsims stand. 7 Uhr 48. Die Besuchszeiten der Häftlinge, die sich in Gewahrsam befanden, beschränkten sich auf 8 bis 16 Uhr, weshalb Sherlock und der Doktor acht Stunden hatten ausharren müssen, bevor sie die angebliche Mörderin besuchen konnten.

Er erhob sich ohne ein Wort von seinem Sessel, griff nach seinem Mantel, der über der Lehne hing und rauschte an John vorbei, der ihm ohne weiteres folgte. John war an die wunderliche Art Sherlocks gewohnt.

Die Taxifahrt zum Pentonville-Gefängnis verlief schweigend. Der Verkehr war zäher als noch am gestrigen Abend, was wohl dem Berufsverkehr geschuldet war, der sich an jeder Ampel staute. Nach knapp zwanzig Minuten hielt das Taxi und ließ die beiden Männer aussteigen.

Sie meldeten sich am Empfang an und wurden dann von einem jungen Wärter in Richtung der Besucherzellen geführt.

Sherlock musterte die Frau durch das dicke Sicherheitsglas, dass ihn und John von ihr trennten. Sie war klein, höchstens eins sechzig, und so zusammengekauert, wie sie in ihrem Metallstuhl saß, ließ sie das nur noch kleiner wirken. Ihr, wie Sherlock erahnen konnte, sonst so hübsches Gesicht wirkte müde und eingefallen, und das kühle, beißende Licht der Leuchtstoffröhre, die an der Decke des Raumes befestigt war, machte das ganze nicht gerade einfacher.

Ihre Haare waren zusammengebunden, jedoch begannen die ersten Strähnen sich bereits wieder zu lösen, doch dies schien die Frau nicht sonderlich zu stören. In Anbetracht der Umstände, nicht besonders verwunderlich.

Holmes studierte die Frau, die vor ihm saß. Er erkannte, wie unwohl sie sich fühlte, da sie andauernd mit ihrem rechten Bein herumwippte. Die Tatsache, dass sie kein Make-Up trug, sagte ihm, dass sie nicht zu den Snobs der High-Society gehören musste, denn er war sich sicher, dass er aus dieser Gesellschaftsschicht noch nie jemanden ungestylt zu Gesicht bekommen hatte - Verhöre und Gerichtsverfahren waren dabei keine Ausnahme.

Die Häftlingskleidung wirkte groß an ihr, nicht weil Harper Adams so besonders dürr war, sondern weil die Kapazität des Pentonville-Gefängises ausgereizt und die Finanzierungsgelder zu knapp waren. Dies schien Adams jedoch nicht weiter zu stören, was Sherlock nur noch mehr bestätigte, dass sie nicht in die Gesellschaftsschicht passte, in die sie damals eingeheiratet hatte.

Doch was Sherlock am meisten auffiel, war eine Geste, die sie immer wieder unbewusst machte. Während ihre Hände auf dem kleinen Tischchen lagen, der sich zwischen ihr und der Glaswand befand, rieben Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand immer wieder über den Ringfinger der Rechten. So, als würde sie mit einem Ring spielen, der sich erst seit kurzem nicht mehr an dieser Stelle befand. Und das sagte ihm einiges: Was auch immer zwischen ihr und ihrem Mann vorfallen war, sowohl vor als auch nach dem Mord, sie hatte ihn gemocht.

sherlock holmes und die verschwörung um harper adamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt