Kapitel 1

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Der Markt war seit enormer Zeit nicht mehr so voll. So viele Bauern hatte Joanne noch nie gesehen, nicht einmal zur Erntezeit im Herbst. Was ging hier vor sich? Unauffällig schlängelte sie sich durch die Masse, die seltsam nervös war. Gab es Neues zu verkünden? Schließlich blieb sie vor der Tribüne stehen, auf der gerade ein Gesandter des Königs seine Schriftrolle aufrollte. Neugierig schob sich Joanne die Haare hinters Ohr, um ihn besser zu verstehen. Doch das war nicht nötig, denn sobald er den Mund öffnete, wurde es mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen gehört. Laut räusperte sich der Mann und genoss ein paar Sekunden der ungewohnten Aufmerksamkeit, bevor er weitersprach. Anhänger des Königs waren in diesem Teil des Landes nicht gern gesehen. 

„Hiermit verkünde ich folgende Neuigkeit", sprach der Botschafter, „Von heute an werden die Steuerabgaben für alle Landwirte und Viehzüchter von 5 Dublonen im Monat auf 30 Dublonen im Monat erhoben." Ein wütendes Raunen ging durch die Menge, es wäre sicher noch lauter geworden, wären die Leute nicht so gespannt auf das gewesen, was noch folgte. Denn der Redner schien noch nicht ausgeredet zu haben. „Zudem werden alle Erstgeborene aus ausnahmslos allen Familien eingezogen, um im Krieg gegen die Morlaner zu kämpfen." 

Das war es. 

Hastig rollte er die Kunde wieder zusammen und wollte vom Podest steigen, doch schon traf ihn eine Tomate mitten ins Gesicht. Diese wurde mit so großer Kraft geworfen, dass er direkt umfiel. Einige Menschen stürzten sich auf ihn.

Joanne entfernte sich vom Brennpunkt des Geschehens und kämpfte sich zum Rand des Marktes durch. Plötzlich stieß sie jemand zu Boden. „Hey!", rief sie erzürnt und stand mit einem Ruck auf. Ein muskulöser Mann mit einer Augenklappe drehte sich um und warf ihr einen angewiderten Blick zu. „Redest du mit mir, du Mistkröte?", brüllte er. Seinem Atem zu urteilen war er besoffen. Das hatte Joanne gerade noch gefehlt, eine Prügelei mit einem Trunkenbold, direkt neben einer wütenden Bauernmeute, die einen Königsdiener verschleppte. Das würde ihr eine hohe Strafe einbringen. Doch einkriegen lassen wollte sie sich auch nicht. „Ja ich rede mit dir! Sieh hin wo du hin läufst!", entgegnete sie. Der Besoffene grinste und trat nah an sie heran. „Wenn ich du wäre, würde ich ganz schnell zurück in die Küche laufen, du kleine Hure." Da war es vorbei mit ihrer Höflichkeit. Mit voller Kraft schlug sie dem Ekel ins Gesicht, sodass er ins Wanken kam. Blut rann aus seiner Nase das Kinn herunter. Das galt es eigentlich zu vermeiden, verflucht. Etwas benommen schaute er sie an und zog dann an ihren braunen Haaren. Sie schrie auf und beugte sich vorn über. 

Inzwischen schauten Menschen in ihre Richtung und kommentierten das Geschehen. Joanne atmete kurz tief durch und rammte dem Mann dann mit voller Wucht ihr Knie in den Bauch. Wie ein Sack Kartoffeln brach er zusammen und hustete. Die Schaulustigen widmeten sich wieder ihrer Rage über die Ankündigung. Schnell suchte die junge Frau das Weite, bevor der Besoffene wieder aufstehen konnte. Er versuchte es gar nicht erst und schlief an Ort und Stelle ein.

Joanne zog sich die Kapuze über den Kopf und schlich durch die Gassen. Hoffentlich hatte das niemand gesehen. Denn jeder, der in der Öffentlichkeit körperliche Gewalt anwandte, kam hinter Gitter. Sofern er denn erwischt wurde. All diese Menschen würden normalerweise in den Kerker geworfen werden, doch bei einer derartigen Überzahl war es zwecklos. Trotzdem sollte sie es nicht riskieren und sich schleunigst zurückziehen, bevor mehr Leute des Königs kamen. Wenn man gerade vom Teufel sprach: schon kamen Soldaten auf weißen Pferden um die Ecke geheizt und hätten sie fast über den Haufen geritten. Zum Glück ignorierten sie sie und hielten auf den Markt zu. Wieder ein Tag an dem sie dem Chaos entkam. 

Seufzend stieg sie eine steinerne Treppe hinab zum kleinen Fluss, der mitten durch die Stadt führte, er trennte das Handelsviertel vom Armenviertel. Hier waren besonders viele Kriminelle unterwegs. Schutz und Gefahr zugleich. Schutz, weil Joanne hier ohne Probleme untertauchen konnte. Gefahr, weil es hier keinerlei Vorstellungen von Moral oder Ehre gab. Es konnte jeden treffen. 

Als sie ihre Hütte erreichte, brannte Licht darin. Skeptisch trat sie an das Fenster heran und wagte einen Blick hinein. Eine dunkle Gestalt saß an ihrem kleinen Tisch und aß etwas, daneben ein großes, blutverschmiertes Schwert. Joannes' Herz schlug wie wild. Sollte sie jetzt reinplatzen? Sie wusste weder, wer das war, noch was die Absichten waren. Doch es gab keine andere Möglichkeit, schließlich wollte sie in ihr eigenes Zuhause, da musste sich dieser Fremde einen anderen Ort suchen um einzubrechen. Mit einem Ruck öffnete sie die Tür. Die Gestalt am Tisch zuckte zusammen und ließ das Essen fallen. Schnell griff sie zum Schwert und richtete es auf Joanne. Das Gesicht war unter der riesigen Kapuze nicht zu erkennen.

„Was hast du hier zu suchen?", fragte Joanne wütend, aber mit leichtem Zittern in der Stimme. Der Mann senkte das Schwert erleichtert. Erst jetzt fiel ihr seine Hautfarbe auf. Sie war graugrün, und überhaupt war er überdurchschnittlich groß. „Du lebst hier?" „Was denkst du denn? Dass jedes Haus dir zur Verfügung steht?" „Zu meiner Verteidigung, die Tür war weit offen und es sah hier nicht gerade bewohnbar aus." „Offen?" Verwundert sah sich Joanne um. Einige ihrer Besitztümer lagen auf dem Boden zerstreut, zerbrochenes Geschirr und vertrocknete Blumen. „Und das warst nicht du?", hakte sie nach. Der Ork schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich schwöre. Ich nahm an, dass es verlassen wäre. Ich fand es genauso vor." Langsam nahm er seine Kapuze ab und sein junges Gesicht kam zum Vorschein. Die Schönheit seiner Augen schüchterte Joanne für einen Moment ein, dann zwang sie sich dazu, sich ebenfalls an den Tisch zu setzen. 

„Was isst du da?", fragte sie trocken. Wie versteinert saß der junge Ork vor ihr. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. „Du... kommentierst gar nicht mein Aussehen?", meinte der junge Mann. „Wieso sollte ich? Interessiert mich doch nicht, ob du Ork, Elf, Meerjungfrau oder Morlaner bist." Ohne zu zögern nahm sie sich etwas von seinem Abendessen. „Wie heißt du eigentlich?", fragte Joanne. Warum sie ihm so blitzartig vertraute, wusste sie nicht. „Ozric. Und du bist?" „Joanne." Schweigend aßen die beiden. Danach stand Joanne auf, um das Durcheinander aufzuräumen. Ozric gesellte sich dazu und kehrte die Scherben auf. „Wie kommt es, dass eine Person wie du in solch einer Gegend lebt?" Joanne musste lauthals lachen. Verlegen kratzte Ozric sich am Hinterkopf. „Naja, du bist so aufgeschlossen und sprichst wie ein zivilisierter Mensch. Das habe ich in den letzten Wochen nirgends gesehen." „Da musst du dich in ziemlichen Dreckslöchern herumgetrieben haben." „Wenn du wüsstest." 

Betreten kniete Joanne vor dem Scherbenhaufen. War es wieder Zeit, die Wohngegend zu verlassen? Dass ausgerechnet ihre Hütte verwüstet wurde, war sicher kein Zufall. Damit würde sie sich später befassen. Allein. Draußen erklang ziemlicher Lärm. Geschrei und Gebrüll von Menschen, das Wiehern und Schnauben von Pferden. Völlig unbeeindruckt musterte Joanne Ozrics blutiges Schwert. „Was hat es damit auf sich?" „Ich sollte das echt mal reinigen... Es gab da eine kleine Auseinandersetzung. Wenn man als Ork erkannt wird, schwebt man permanent in Lebensgefahr." „Verstehe." 

Stille. 

Man hörte draußen nur noch das Stampfen der Pferdehufe und verärgertes Raunen und Fluchen. Scheint, als wäre der Tumult beendet worden. 

„Brauchst du einen Platz zum Schlafen?", fragte die junge Frau nach einer Ewigkeit des unangenehmen Schweigens. Erschöpft nickte der Ork. „Komm mit, ich zeige dir, wo du dich niederlassen kannst." Die beiden gingen die knarksende Treppe nach oben auf den kleinen Dachboden. Ozric musste sich ducken, um nicht durchgehend an die Dachschräge zu stoßen. Vor ihnen befand sich ein provisorisches Bett aus Stroh, Wolle und Federn. „Es ist vielleicht nicht viel, aber..." „Machst du Scherze? Ich habe schon viel schlimmere Betten gesehen." 

Zufrieden legte er sich drauf und streckte sich aus. Er nahm die Wolldecke neben sich und breitete sie über seinen Beinen aus. „Wo schläfst du?", fragte er, als er es sich gemütlich gemacht hatte. „Ich werde unten bleiben." Ohne weitere Erklärungen ging sie die Treppe hinunter und setzte sich an den Tisch. Sie müsste bereits im Morgengrauen verschwinden. Doch wohin? Das bedarf besserer Planung als bisher. Denn man fand sie immer irgendwie. Sie hatte es satt, verfolgt zu werden, sie wollte in Frieden leben. Vielleicht würde sie morgen schlauer sein.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch legte sie den Kopf auf ihre verschränkten Arme und schlief im Sitzen ein.

On the runWo Geschichten leben. Entdecke jetzt