Kapitel 4

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Joanne schrak auf, als sie etwas kaltes an ihrer Kehle spürte. Sie konnte ihren Angreifer nicht sehen, aber vermutlich hatte Ozric Recht. Der Hausherr war zurückgekehrt. 

„Wer seid ihr und was habt ihr hier zu suchen?", ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Ozric wachte auf und erschrak. „Wir sind nur auf der Durchreise, wir wussten nicht, dass..." Die Klinge entfernte sich von ihrem Hals. „Durchreise?" „Nennen wir es lieber fliehen", antwortete Ozric und stand auf. „Bleib wo du bist!", rief der Fremde und richtete den Dolch auf ihn. „Ganz ruhig, es muss ja nicht eskalieren. Hör mal, wir brauchten nur einen Platz zum Schlafen, morgen sind wir wieder weg." „Vor wem flieht ihr?" Die fremde Stimme klang nun ruhiger. Joanne drehte sich um und sah in ein vernarbtes und trotzdem noch sehr junges Gesicht. Er war nicht viel älter als sie selbst. „Naja, vor dem König." 

Der Angreifer lachte erleichtert. „Und ich dachte schon ihr wärt seine Gesandten." „Wieso sollten die vor irgendwem fliehen?" „Wisst ihr denn gar nicht, in welcher Gegend ihr euch befindet? – Ach entschuldigt, vielleicht sollte ich mit meinem Namen anfangen. Ich bin Merlin." „Wir sind Joanne und Ozric", antwortete Joanne und setzte sich im Schneidersitz neben ihn. „Was meinst du mit Gegend?", wollte der Ork wissen. „Also. Dieser Wald gehört zu einer Art Sperrgebiet, Grauzone oder auch Land des Chaos. So zumindest nennen es die anderen. Hier in diesem Wald und in den Regionen dahinter tummeln sich die Andersdenkenden, die Rebellierenden, die Aufmüpfigen. Wer hier als Anhänger des Königs durchkommt, überlebt das meistens nicht." Ozric konnte es nicht glauben. Andere die dachten wie er? 

„Wieso lebst du dann so abgeschottet hier?" „Ach so abgeschottet bin ich gar nicht. Einige von uns wechseln sich ab, um auf Patrouillen zu gehen. So können wir die Anderen warnen falls nötig. Oder aber die Gefahr gleich selbst ausschalten." Joanne war fasziniert. Ob es auch für sie ein sicherer Ort sein könnte? Zaghaft wanderte ihr Blick zu Ozric. Er nickte. Als könnte er ihre Gedanken lesen. „Habt ihr vielleicht eine Bleibe für uns?", fragte sie Merlin. „Das kommt ganz darauf an, was ihr zu unserer Gemeinschaft beitragt. Jeder von uns hat eine Aufgabe müsst ihr wissen." Er sah die beiden eindringlich an und wartete auf eine Antwort. „Ich bin gut darin, zu jagen...", begann der Ork. „Oh, ich spreche nicht von dieser Art Aufgabe. Was wir dringend brauchen sind Leute die wissen, wie man mit einer Waffe umgeht. Ihr zwei scheint mir passable Kämpfer zu sein." Gerade als Joanne antworten wollte, brach Ozric zusammen. Die Wunde von gestern war noch lang nicht angemessen versorgt worden, lediglich provisorische Verbände hielten alles zusammen. 

„Komm, wir bringen ihn ins Dorf. Ich kenne jemanden, der uns helfen kann." Schnaufend trugen sie den bewusstlosen Gefährten nach draußen und legten ihn dort auf Merlins Pferd. Sie durften jetzt keine Zeit mehr verlieren. Joanne betrachtete seine Wunde, der Verband war völlig durchgeweicht und vollgesogen mit Blut. Das sah gar nicht gut aus. Schnell sattelte Merlin auf und führte sie zum nächsten Dorf. Dort wurde der Verletzte ohne Fragerei oder Stirngerunzel aufgenommen. Joanne folgte derweil ihrem Helfer in eine der Hütten. „Mach dir keine Sorgen, er ist in guten Händen. Reden wir über das Wichtige. Wir haben eine leerstehende Hütte, sie hat einige Mängel, aber wenn ihr sie selbst repariert und uns bei der Verteidigung helft, könnt ihr bleiben. Abgemacht?" „Abgemacht." Sie wollte lieber nachhaken, weshalb sie so dringend Kämpfer brauchten, doch das hatte Zeit. Jetzt würde sie erst einmal nach der Hütte sehen, von der Merlin sprach. Sie war zweifellos mangelhaft, doch sie hatte Potential. Aber ohne ihren Begleiter würde sie das nie schaffen, dazu fehlte es ihr an Körperkraft. 

Zügig schritt sie zum Lazarett, welches gut gefüllt war. Sie ignorierte das rege Treiben und quetschte sich durch die Räume bis zum größten Bett, das sie dort hatten. Und darin lag er, Ozric. Er sah tatsächlich recht friedlich aus. Merlin hatte Recht, sie müsste sich keine Sorgen machen. Erleichtert setzte sie sich neben ihn und schwieg eine Weile vor sich hin. Seine gleichmäßigen Atemzüge wurden von einer sich nähernden Person übertönt. 

„Du musst seine Begleiterin sein." Joanne nickte kurz. Eine junge, kurbulente Frau stand vor ihr. Das freundliche Lächeln wirkte auf sie wie eine warme Umarmung. „Dafür, dass der Verband provisorisch war, ist er durchaus von guter Qualität gewesen. Hast du Erfahrung in der Medizin?", fragte sie und wechselte das Tuch auf Ozrics Stirn. „Nicht wirklich, ich habe mir das nur aus reinem Interesse angeeignet, die Kräuterheilkunde nur selten gebraucht. Man wird ja doch als Hexe abgetan." Die Frau nickte verständnisvoll. „Deine Gabe könnte hier wirklich hilfreich sein. Niemand wird dich hier verurteilen." „Ich werde helfen, wo ich kann", antwortete Joanne und blickte von der Heilerin zum verletzten Ork. Endlich würde sie mal Teil von etwas Gutem sein.

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