Am nächsten Morgen wachte sie mit starrem Nacken auf und stellte fest, dass eine Decke über ihren Schultern lag. Als sie verschlafen nach oben stapfte war das Bett leer, nur noch eine große Kuhle von Ozrics stämmigem Körper war zu erahnen. Er war also bereits fort. Das nahm Joanne mehr mit als es sollte. Irgendwie hatte sie ihn liebgewonnen, als einzigen Gast seit Jahren.
Schulterzuckend packte sie ihr wichtigstes Hab und Gut zusammen und verließ die Hütte. Ein aller letztes Mal sah sie sich um und betrachtete ihr kleines Eigenheim. Hier hatte es ihr bisher am besten gefallen.
Schade, dass sie gehen musste.
Betrübt ging Joanne die Straßen entlang, überquerte den Fluss, passierte den Marktplatz und näherte sich dem Rand der Stadt. Heute waren schon um einiges weniger Menschen zu sehen. Die gestrige Unterdrückungsaktion war also doch wirksam. Mit einem verachtenden Blick musterte sie die Soldaten des Königs, die immer noch durch die Gegend patrouillierten. Schließlich verließ sie die Stadt durch das große Tor und erblickte die ersten goldgelben Felder. Sie war seit langem nicht mehr hier draußen. Doch das schreckte sie nicht ab, sie ging weiter in die Ahnungslosigkeit.
Es waren inzwischen einige Tage vergangen, Joanne hatte immer noch keinen festen Wohnsitz gefunden und wanderte von Dorf zu Dorf. So langsam gewöhnte sie sich daran, als Nomadin zu leben. Dennoch wuchs in ihr der Wunsch, eines Tages Fuß zu fassen, die Paranoia fallen zu lassen. Doch solange sie nicht wusste, wer sie tot sehen will, war dies keine Option. Schon oft spielte sie mit dem Gedanken, dem Verfolger einfach aufzulauern. Aber wie viele es letztendlich waren, war ihr unbekannt, also wäre auch dies zu riskant gewesen. Aber was sollte sie sonst tun? Das Katz-und-Maus-Spiel musste enden. Seit sie 16 war, wurde sie verfolgt von diesen Leuten, manchmal sah sie Schatten, manchmal wurde sie von dunklen Gestalten mit Bögen beschossen, manchmal schlichen zwielichtige Wesen an ihrem Fenster vorbei. All die Jahre rannte sie davon. Nun sollte endgültig Schluss sein. Während sie so vor sich hin grübelte, saß sie an ihrem dritten Trank in einer heruntergekommenen Taverne. Sie war um diese Uhrzeit der letzte Gast.
Gerade, als sie ihr Glas leerte, sprang die Tür auf und ein großer Mann mit Kapuze setzte sich schnell neben sie. „Tun wir so, als wäre ich schon die ganze Zeit hier", flüsterte er. Seine Reißzähne funkelten im Kerzenschein. „Ozric?", fragte Joanne ungläubig. Nach dieser weiten Reise war er ihr doch wieder begegnet. „Joanne?" Bevor sie sich weiter unterhalten konnten, sprang die Tür auf und knallte gegen die Wand. Eine Meute wütender Männer strömte herein.
„Wir wissen, dass er hier irgendwo ist!" Ozric zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht und starrte den Tisch an. „Habt ihr zwei einen Mann gesehen, groß, blutverschmiert und mit einem frechen Lachen? Dieser Unhold hat mich bestohlen und wird den Preis dafür zahlen!" Demonstrativ zog er sein Schwert aus der Scheide. Bereit für die Eskalation der Situation wanderte Joannes Hand zu ihrer Waffe.
„Hier kam niemand durch, um die Uhrzeit ist doch niemand mehr in der Taverne", entgegnete sie. „Außer euch beiden, hm?" Joanne drehte sich zu ihm um und erstarrte. Es war der Mann, den sie niedergeschlagen hatte, der Trunkenbold. Ob er sie erkannte?
„Dich kenne ich doch irgendwo her...", begann er. Oh nein.
„Ich habe euch noch nie gesehen", antwortete sie nervös. Der Kerl trat nah an ihr Gesicht heran und sog die Luft ein. Er selbst roch nach Alkohol, mal wieder. Dann lachte er laut.
„Das ist die Kleine, die mir eine ordentliche Tracht Prügel verpasst hat!" Seine Hand ging an ihren Hals und hob sie vom Stuhl, sie baumelte mit den Füßen in der Luft. Schnell griff sie zum Gürtel und zog ihren Dolch. Mit aller Kraft rammte sie ihn in seine Schulter. Vor Schmerz schrie der Angreifer laut und taumelte nach hinten. Wütend zog er den Dolch heraus und griff nach Joannes Arm, verfehlte sie aber. Ozric erwachte nun auch aus seiner Starre und kämpfte Rücken an Rücken mit ihr gegen die Fremden. Der Wirt verfolgte das Geschehen aus sicherer Entfernung. Nach schweißtreibendem Kampf lagen die Männer stöhnend am Boden, Ozric und Joanne schlüpften durch die Tür nach draußen. Sie rannten durch die Straßen, als der Ork plötzlich zusammenbrach. Blut strömte aus seiner Brust und tropfte auf das Gras. „Verdammt, du brauchst Hilfe", keuchte seine Begleiterin und stützte ihn beim Weiterlaufen. Schon bald stießen sie auf eine Scheune, die verlassen schien. Erschöpft ließ Ozric sich auf dem Stroh nieder und hielt sich seine Wunde.
„Hör zu, ich bin sofort zurück. Rühr dich nicht vom Fleck", rief Joanne und lief zum nächstgelegenen Haus. Dort fragte sie nach medizinischen Hilfsgütern. Gott sei Dank waren die dort lebenden Menschen gewillt zu helfen und baten sogar an, ihr zu folgen und sich die Verletzung einmal anzusehen. Als sie den Ork erblickten erschraken sie nicht eine Sekunde. Kommentarlos versorgten sie ihn so gut es ging.Joanne bedankte sich bei ihnen mit ein paar Dublonen, die sie noch übrig hatte.
Als die Menschen gingen, setzte sie sich neben Ozric und seufzte. „Was hast du ihnen gestohlen?", begann sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Diamanten", krächzte er. „Im Wert von mindestens 1.000 Dublonen." Stolz nickte sie. „Nicht schlecht." Überrascht schaute er sie an. „Also bist du auch ein Dieb?" „So in der Art. Allerdings habe ich seit Jahren keine großen Dinge mehr über die Bühne gebracht. Bin ein wenig eingerostet." „Danke, dass du mir geholfen hast, auch wenn es nicht dein Ärger war." „Naja, teilweise schon." „Hast du den wirklich umgehauen? Er ist riesig." „Zweifelst du an meinen Kampfkünsten?" „Ganz ehrlich? Ein bisschen." Zähneknirschend schwieg Joanne.
„Wieso hattest du denn Stress mit ihm?", fragte Ozric, um die Stille zu brechen. „Er war mir im Weg." Er lachte. „Vielleicht bist du doch taffer, als du aussiehst." Joanne zog die Augenbrauen hoch. Heute war er wirklich auf dünnem Eis unterwegs. Aber wie würde es nun weitergehen? Sollte sie wieder verschwinden oder wäre es schlauer, sich zu verbünden? Schließlich wurde sie noch immer verfolgt und brauchte Hilfe, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte.
„Sag mal, hättest du Interesse an einem Partner? Also so rein geschäftlich", fragte der Ork aus dem Nichts. Verblüfft starrte sie ihn an. Dachten sie dasselbe? „Was habe ich davon?", fragte Joanne provokant, obwohl sie die Antwort bereits wusste. Aber Ozric musste ja nicht wissen, dass sie darauf angewiesen war, das würde sie in die Opferrolle drängen. Abhängigkeit war ihr größter Albtraum.
„Naja, ich könnte dir helfen Geld und Essen heran zu schaffen, keine Ahnung, ein Leben aufbauen. Du scheinst mir nicht gerade einen Rückzugsort zu haben, genau wie ich. Ich meine, wäre es nicht schön sesshaft zu werden? Wir könnten auch zu zweit viel besser stehlen." „Du willst das mit dem Verbrecherleben echt durchziehen, hm?" „Klar, ich meine, es reizt einen schon. Dich etwa nicht mehr?" Joanne überlegte. Recht hatte er. Es gab nichts Besseres als das Adrenalin, das einem durch den Körper schoss, wenn man es etwas entwendet hatte.
„Aber irgendwie passt das Verbrecherleben nicht mit dem Fuß fassen zusammen." „Wenn man es richtig anstellt schon." „Seit ich sechzehn bin, werde ich verfolgt. Ich kann nie ein Auge zu machen, ohne daran zu denken, dass sie mich tot sehen wollen. Wie soll man Leute abschütteln, wenn man in drei Königreichen gesucht wird gegen ein siebenstelliges Kopfgeld?" „Was hast du bitte angestellt?" „Ich war Kopfgeldjägerin, nur leider war ich unaufmerksam." „Verdammt. Ich habe noch nie jemanden getötet, außer um mich zu verteidigen." Stille. Sie hätte das nicht sagen sollen, wer würde sowas schon gern an seinen Fersen hängen haben? So viele Probleme und Gefahren.
„Hast du schon darüber nachgedacht, dich deinem Schicksal zu stellen?", fragte Ozric nach einiger Zeit. „Klar. Aber so einfach ist das nicht." Er nickte.
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On the run
Fantasy(--- wird regelmäßig überarbeitet!---) Ganz zufällig stoßen sie aufeinander: ein geächteter Ork und eine gesuchte Verbrecherin. Obwohl sie aus unterschiedlichen Welten kommen, raufen sich Ozric und Joanne zusammen, um dem König und seinem Gefolge zu...