Befürchtungen

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Auch wenn Tyler es sich nicht eingestehen wollte, konnte er nicht leugnen, dass er Angst hatte.
Ein paar Tage waren nun schon vergangen, seit Wednesday überraschend im Weathervane aufgetaucht war. Sie hatten sich geküsst, dann hatte sie eine Vision bekommen und war danach so schnell weggelaufen, dass er nicht einmal die Chance gehabt hatte, sie aufzuhalten. Er wusste, was sie gesehen hatte, zumindest ahnte er es, und als Tyler wieder an ihren teils entsetzten, teils verstörten Blick dachte, mit dem sie ihn angesehen hatte, zog sich alles in ihm zusammen. Der Hyde war ein Fluch, den er loswerden wollte, auch wenn ihm bewusst war, dass das wahrscheinlich nicht möglich war. Und die logischste Erklärung auf ihre beinahe schon panische Flucht aus dem Café war die, dass sie in ihrer Vision gesehen hatte, was er war.

Tyler wollte Wednesday nicht verletzen, gleichzeitig wusste er, dass er es würde tun müssen, dass Thornhill es ihm befehlen würde und dass der Hyde seinem Meister gehorchen musste.
Er hatte keine Wahl. Und es zerriss ihn.
Er hoffte, betete darum, dass Wednesday das auch erkennen würde, dass sie ihn nicht dafür verurteilte, was der Hyde tat, da selbst diese rachsüchtige, wütende Kreatur keine Wahl hatte.
Und er hatte sie erst recht nicht.

Thornhills Manipulationen hatten Schaden angerichtet, dessen war Tyler sich mittlerweile bewusst. Sie hatte ihn gegen die Außenseiter aufgestachelt, hatte den Tod seiner Mutter benutzt, um den Hass zu schüren, hatte Nevermore als Quelle allen Übels deklariert. Und auch wenn der Zorn und der Hass nur langsam in Tyler hochgekocht waren, hatte es den Hyde umso rasender gemacht. Und Thornhill hatte das gewusst, hatte gewusst, dass es reichte, wenn der Hyde diese negativen Gefühle gegenüber der Schule und den Außenseitern empfand, damit ihr Plan gelingen konnte, denn letztendlich war es der Hyde, der ihr Handlanger war und nur diesen konnte sie kontrollieren. Sie hatte nur bedingt Einfluss darauf, was Tyler tat, doch letztendlich hatte sie ihn so weit manipulieren können, bis sie ihn foltern und vergiften konnte, bis der Hyde erweckt wurde und ab dem Zeitpunkt war es zu spät. Das Monster ließ sich unter ihrer Kontrolle mit Leichtigkeit zu einem Werkzeug ihres Planes machen.  

Am Abend des Rabentanzes war es ihm bewusst geworden: Nachdenklich hatte er auf das Bild gestarrt, hatte das Gesicht seiner Mutter betrachtet, und der Hass und die Rachegelüste, die in seinem Inneren schwelten, waren weiter genährt worden. Die Außenseiter hatten den Tod seiner Mutter zu verschulden, sie hatten es zu verantworten, dass er ebenfalls zu einem Hyde geworden war. So hatte es ihm Thornhill erzählt und auch wenn er der Botaniklehrerin nicht mehr vertraute, so wollte ein Teil von ihm ihren Worten Glauben schenken. Und sei es nur, um ein Feindbild zu haben, um sich einzureden, dass all der Schmerz nicht umsonst war, dass sein Gang durch die Hölle nicht sinnlos gewesen war. Auch wenn ihm bewusst war, dass die Rache nur Thornhill etwas bringen würde. Doch diese Gedanken, die in ihm hochgekocht waren, der Hyde, der an der Oberfläche gekratzt hatte, all das hatte sich mit einem Mal in Luft aufgelöst, als er Wednesday in der Spiegelung der Vitrine gesehen hatte. Tyler wusste, wenn er sich überhaupt je hatte rächen wollen, und dieser Wunsch nicht auch nur auf Thornhills Manipulationen begründet gewesen war, so war es in dieser Sekunde nichtig geworden. Und das war der Augenblick gewesen, in dem er begriffen hatte: Sie, Wednesday Addams, der Freak der Freaks, hatte alles ins Wanken gebracht.  

Es war der Moment gewesen, in dem Thornhill ihm gesagt hatte, dass er Wednesday zu gegebener Zeit würde töten müssen, in dem seine Welt ein Stück zerbrochen war. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich noch nicht in sie verliebt, doch er hatte sie lange genug gekannt, dass er sagen konnte, dass sie ihm wichtig geworden war. Die Vorstellung, ihr Blut an seinen Händen zu haben, war so beängstigend und grauenvoll für ihn gewesen, dass er weitergegangen war, als er es je für möglich gehalten hätte. Seine einzige Freundin umzubringen, die einzige Person, der er wirklich vertrauen konnte ...
Allein der Gedanke daran war abscheulich und grausam.

Als Wednesday Thornhill die Zeichnung mit dem Wasserzeichen gezeigt hatte, hatte sie der Rothaarigen unbewusst offenbart, dass sie der Schlüssel war, um Crackstone wieder auferstehen zu lassen. Und es war der Moment gewesen, in dem sie begriffen hatte, dass das Mädchen sterben musste, wenn sie ihren Zweck erfüllt hatte. Thornhill hatte Tyler daraufhin angewiesen, ein Auge auf Addams zu haben, dafür zu sorgen, dass sie nicht hinter den Plan kommt.

Tyler Galpin hatte keine Kontrolle darüber, wer den Hyde manipulierte. Er hatte keine Ahnung oder irgendeine Art von Training, um seine eigenen Kräfte zu kontrollieren. Er wurde von seinem Vater vernachlässigt und fand anfangs Trost in den Lügen, die Thornhill ihm über seine Mutter erzählte. Wenn sein Vater jemals versucht hätte, mit ihm zu reden, anstatt sich davor zu fürchten, was aus seinem Sohn werden könnte, hätte dies vielleicht das Unheil abwenden können. Tyler hatte es sich nicht ausgesucht, Menschen zu töten, er war nur ein Jugendlicher, der versuchte, ein besserer Mensch zu werden. Der Schmerz der Menschen, die der Hyde getötet hatte, verfolgte ihn, er fühlte sich schuldig, auch wenn er keine Schuld trug, denn selbst der Hyde hatte keine Wahl, musste seinem Meister gehorchen.  

Dabei hatte er all das gar nicht gewollt, er wollte nicht den Hyde in sich bergen, denn er wusste, wenn er den Hyde zumindest teilweise kontrollieren konnte, wenn er die riesige Kreatur war, dass der Hyde auch durch seine menschliche Form würde handeln können, und es machte ihm eine Heidenangst. Es war bereits in den Therapiesitzungen mit Kinbott passiert, wann immer das Thema auf seine Mutter fiel, hatte der Hyde die Kontrolle übernommen. Tyler wusste, dass es erst vier Mal passiert war, dass das Wesen tat, was er ihm befahl, doch es reichte, um sich sicher zu sein, dass es etwas zu bedeuten hatte. Er hatte Rowan getötet, er war Wednesday bis zu den Ruinen des Versammlungshauses gefolgt, er hatte verhindern können, dass der Hyde Eugene tötet und er hatte Kinbott umgebracht, um Wednesday zu beschützen.

Es hatte ihm auch kurzzeitig Hoffnung gegeben, dass er es vielleicht sogar schaffen könnte, sich von Laurel Gates' Einfluss zu befreien, doch als Wednesday ihm das Buch gezeigt hatte, in dem ganz klar stand, dass ein Hyde seinem Meister gehorchen musste, war diese Hoffnung wieder zerplatzt. Kurze Zeit später hatte Tyler Laurel erzählt, dass Wednesday Faulkners Tagebuch besaß. Er hatte nicht gewusst, dass er ihr damit in die Hände spielte, als er Wednesday zu dem Date in Crackstones Krypta überredet hatte, denn das hatte es Laurel ermöglicht, sich  ungestört in das Zimmer der Schwarzhaarigen begeben können, um das Buch an sich zu bringen und Addams mit dem Verwüsten des Raumes noch deutlicher zu machen, dass sie selbst dort nicht sicher war. Später hatte die Lehrerin noch die  Beweismittel in Xaviers Schuppen deponiert, damit er an Tylers Stelle verhaftet wird.

Tyler wusste, dass der Hyde teilweise eine eigene Persönlichkeit hatte, die sich von der seinen deutlich unterschied, doch er befürchtete, dass Wednesday keinen Unterschied zwischen ihm und dem Hyde machen würde, dass sie die Taten des Monsters als seine eigenen werten würde und irgendwie würde er es ihr nicht einmal verübeln können. Doch Tyler wusste auch, dass er nicht der Hyde sein wollte, dass er lieber normal war, als ein Wesen, dass nur auf die Befehle seines Meisters hörte und infolge dessen tötete.

Er wollte nicht, dass Wednesday ihn so sah, wie er sich selbst sah, denn er konnte sich die Taten des Hydes nicht verzeihen. Es gab immer einen kleinen Teil in ihm, der ihn daran erinnerte, dass die Schuld letztendlich bei ihm lag, dass er es vielleicht doch irgendwie hätte schaffen können, den Hyde in sich zu kontrollieren. Oder dass er zumindest hätte verhindern können, dass Thornhill ihn manipulierte, womit sie ihm vielleicht nie das hätte antun können, was den Hyde letztlich entfesselt hatte.
Er hasste sich dafür, dass er diese Menschen getötet hatte, er hasste sich dafür, dass er in absehbarer Zeit alles würde zerstören müssen, was ihn mit Wednesday Addams verband.
Tyler wusste, dass sie ihm diesen Verrat wahrscheinlich nie verzeihen würde. Und im gleichen Moment wünschte er sich, er könnte ihr alles erklären, könnte Thornhills Plan aufdecken und damit die Zerstörung von Nevermore verhindern. Er wünschte, er könnte ihr in den Rücken fallen, sich für all die Lügen und Manipulationen, all den Schmerz rächen. Doch Tyler wusste, dass das nicht möglich war, er konnte Laurel Gates nicht hintergehen.

Ihre weiteren Instruktionen waren klar gewesen. Er sollte verleugnen, dass er der Hyde war, denn noch war kein Vollmond und erst an Vollmond konnte Joseph Crackstone mit dem Blut einer Addams und den Beschwörungen aus Goodys Buch der Schatten wiedererweckt werden. Und er musste gehorchen, ob er wollte oder nicht.

Als er einige Stunden später eine Nachricht von Wednesday bekam, die ihm Händchen überbrachte, wusste er, dass es nun kein Zurück mehr gab.

Und das Unheil nahm seinen Lauf.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt