Der Himmel war wolkenverhangen, leichter Regen setzte ein. Es war ein Wetter, das Wednesday überaus gern mochte, doch momentan galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Jungen, der einige Meter von ihr entfernt mit dem Rücken zu ihr stand, gedankenverloren auf den Eingang der Höhle starrend, der aussah wie das aufgerissene Maul eines Ungeheuers. Er hatte sie noch nicht bemerkt, und auch jetzt, als es zu regnen begann und es immer ungemütlicher wurde, rührte er sich nicht von der Stelle.
Wednesday entschloss sich dazu, das Schweigen zu brechen: „Wieso kommst du immer wieder hierher zurück?“Tyler fuhr herum, die Augen weit aufgerissen.
„Was?“, fragte sie spöttisch, während sie zu ihm trat. „Hast du mich mit deinen scharfen Ohren etwa nicht gehört?“
„Du bist sehr gut darin, dich anzuschleichen“, entgegnete er bloß, den Blick wieder zu dem schwarzen Schlund richtend. Der Regen nahm zu, doch es störte Wednesday nicht, vielmehr beruhigte es sie. Irgendwo konnte sie die Flügelschläge eines Vogels hören, der sich von seinem Ast erhob. Auch der Wind nahm an Stärke zu, fegte um die Bäume, wirbelte einige Blätter auf, die am Boden lagen. Sie stellte sich neben ihn, folgte seinem Blick. Tyler hatte seine Hände in den Jackentaschen vergraben; als Wednesday sich etwas vorbeugte, um ihm in die Augen zu sehen, bemerkte sie, dass er ins Leere starrte.„Es ist …“ Er stockte, zögerte. Dann ergriff er wieder das Wort. „Irgendetwas zieht mich immer wieder hierher.“ Tyler zog die Augenbrauen zusammen, versuchte seine Gedanken zu sortieren und in Worte zu fassen. „Ich weiß nicht, ob es der Hyde ist, immerhin hat Laurel ihn hier erweckt, aber …“ Wieder zögerte er, traute sich fast nicht, weiterzusprechen. War es klug, so viel von sich Preis zu geben? „Ich komme einfach nicht davon los“, schloss Tyler. Sein Blick wanderte gen Boden, fixierte einen Stein, der in der Nähe der Höhle lag. Er durfte nicht hinsehen. Er wusste, dass es ihn nur retraumatisieren würde, die Bilder würden wieder hochkommen, die Schmerzen wieder präsent werden. Auch wenn er es kaum ertragen konnte, auch wenn er sich damit schadete, führten ihn seine Schritte dennoch immer wieder zu der Höhle. Die Höhle, die für ihn Schmerz und Kontrollverlust symbolisierte, das beängstigende und schreckliche Gefühl des Ausgeliefertseins. Er hatte sich nicht widersetzen können, der Hyde war so unfassbar stark und zerstörerisch, doch er hatte sich nicht gegen seinen Meister zur Wehr setzen können, gegen das, was er ihm antat, musste ihm gehorchen.
Tyler schloss die Augen. Er hatte wieder den Gestank von Blut in der Nase, das Brüllen des Hydes hallte in seinen Ohren wider, als er daran zurückdachte, wie er das erste Mal ausgebrochen war, alle Fesseln von sich gestreift hatte, wild und mordlustig hatte er in der Höhle gekauert, auf einen Befehl seiner Meisterin wartend. Er ballte seine Hände zu Fäusten, seine Fingernägel gruben sich in seine Haut. Der Schmerz, der folgte, lenkte ihn ab.
Er sah zu Wednesday, die nur stumm neben ihm stand, die Arme am Körper herabhängend, während sie nachdenklich zu dem schwarzen runden Loch blickte. Der Regen war mittlerweile so stark geworden, dass er sie bis auf die Knochen durchnässte, aber weder Wednesday noch Tyler registrierten diesen Umstand. „Irgendwann wirst du dich dem stellen müssen.“ Ihre Stimme war kalt, man hätte den Tonfall für gehässig halten können, doch Tyler hatte gelernt, in ihrer Stimme, ihren Augen und ihrem ausdruckslosen Gesicht zu lesen, weswegen er bemerkte, dass es mehr eine Feststellung war, denn eine Aussage, die ihn verletzen sollte. Es war keine Schadenfreude darüber, dass es ihn noch immer heimsuchte.
„Die Wunden sind noch zu frisch“, meinte er bloß.„Der Hyde hat nun keinen Meister mehr“, fuhr er fort. „Er ist irgendwie … ziellos. Aber leider immer noch äußerst gefährlich.“ Wednesday strich sich eine durchnässte Strähne aus der Stirn, bevor sie zu Tyler blickte. „Das letzte Mal vor zwei Wochen, als ich dem Hyde in den Wald gefolgt bin, ihm gegenüberstand, hat er mich nicht angegriffen.“ Tyler nickte. Er erinnerte sich sehr gut daran, er war gerade noch rechtzeitig in den Schutz der Bäume geflüchtet, bevor er sich in die Kreatur transformiert hatte. Es war das erste Mal seit einigen Monaten wieder passiert. „Ich weiß nicht, warum er dich nicht angegriffen hat“, meinte er. „Vielleicht … weil du erneut keine Angst gezeigt hast. Der letzte Befehl, den Laurel ihm gab, war zwar, dich zu töten, aber …“ Tylers Blick wanderte zu Wednesdays Augen, die ihn ebenfalls fixierten. Er musste zugeben, dass er nicht weiter wusste. Die Gedankengänge des Hydes erschlossen sich ihm noch nicht ganz, zumindest nicht, was das betraf. Es gab eigentlich keine logische Erklärung dafür, dass das Monster seinen Befehl nicht ausgeführt hatte, auch wenn Laurel Gates tot war. Selbst wenn er nicht die Anweisung bekommen hätte, hätte das Monster sie normalerweise angegriffen. „Vielleicht hatte er auch nur Angst, wieder von einem Werwolf attackiert zu werden“, erwiderte die Schwarzhaarige, ihr linker Mundwinkel zuckte für eine Millisekunde nach oben, man hätte es leicht übersehen können. Er erwiderte das Lächeln.
Tyler verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper, langsam spürte er die Kälte, die sich wie eine Decke um ihn schlang. Er strich sich die nassen Locken aus der Stirn, atmete langsam und gleichmäßiger, als er merkte, dass ihn die grausigen Bilder erneut einholten, versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken.
Die Ketten … die dunkle Höhle … der intensive Geruch der Substanz, mit der Thornhill die Spritze füllte. … Der Fall, als sein Geist mit brachialer Gewalt in den Hintergrund geschoben wurde, als ein anderes Bewusstsein das Denken übernahm … ein Bewusstsein, das viel … dunkler war. Ursprünglicher. Bösartiger.
Seine Lider schlossen sich, er musste seine Sinne nur ein wenig strecken, um die Geräusche und Gerüche des Waldes besser wahrnehmen zu können, bis die Reize sein Bewusstsein zu überfluten schienen, sodass alles andere still war.
Keine Gedanken, keine Erinnerungen.
Nur der Geruch von Moos, nassem Laub und Regen in seiner Nase, das Geräusch der Tropfen auf den Blättern, der Ruf eines Käuzchens, das Krächzen einer Krähe hoch oben im Wipfel einer Buche. Sein Geist kam zur Ruhe, seine verkrampfte Haltung löste sich etwas, die Panik verschwand langsam, das Zittern seiner Finger hörte auf.Wednesdays kühle Hand schloss sich um seine Finger. Der Moment schien ewig anzudauern und es hätte Wednesday nicht im Geringesten gestört, wenn es auch so gewesen wäre, wenn sich die Zeit bis zur Unendlichkeit ausgedehnt hätte. Tyler war sichtlich entspannter und es freute sie ungemein, – auch wenn sie das nicht einmal unter Folter zugegen hätte – ihn so ausgeglichen zu sehen. Sie hatte den kurzen Moment registriert, in dem er abzurutschen und ins Bodenlose zu stürzen drohte, mitgerissen von dem Grauen, das ihm hier wiederfahren war. Doch es hatte nur wenige Minuten gedauert und Tyler hatte sich wieder gefangen. Er stand in nächster Nähe zu einem Ort, an dem er nur Leid erfahren hatte und trotzdem schaffte er es, irgendwie damit umzugehen. Er würde sich von dem erholen können, was Thornhill ihm angetan hatte, um den Hyde überhaupt erst zu entfesseln, daran zweifelte sie nicht eine Sekunde und sie nahm sich vor, ihm dabei zu helfen.
Tyler verstand und akzeptierte sie und Wednesday fühlte sich in seiner Nähe geborgen und auch wenn sie es selbst nicht wusste, gab sie ihm wiederum Sicherheit und Halt. Und vielleicht würde sich ihre innere Unruhe dann auch irgendwann legen, das Gefühl der Einsamkeit weichen. Und ganz nebenbei würde sie versuchen, mehr über Hydes herauszufinden, weiter zu forschen, wenn sich Tyler als Proband bereiterklären würde. Es gab schlimmere Arten, einander zu helfen, befand Wednesday, während sie die Stille brach und ihn fragte. Er bejahte es lachend, bevor er sie in einen sanften, unendlich langen Kuss zog.
Und die Stille legte sich über sie wie ein schützender Mantel, hüllte sie ein und gab ihnen an diesem schrecklichen Ort das Gefühl tröstlicher Nähe und Geborgenheit in dieser verregneten Nacht.
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Der Seele tiefster Schatten
FanfictionFast zwei Jahre lang hatte Tyler keine Kontrolle über sein Leben. Bis Gates stirbt. Ab diesem Zeitpunkt ... gibt es einen Lichtblick. Doch die größte Hürde liegt erst noch vor ihm, denn nun muss er lernen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was pass...