Überreizung

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A/N: Vielleicht hat es der ein oder andere bereits gemerkt: ich habe zwei Kapitel in die Handlung hineingeschoben. Da das hier vorher eine Oneshot-Sammlung war, und ich mich erst jetzt (viel zu spät) dazu entschlossen habe, daraus eine zusammenhängende Geschichte zu machen, musste ich die Kapitel (das Dritte: „Über Vertrauen und seltsame Arten der Wahrheitsfindung“ und das Vierte: „Friedhofsspuk“) noch dazwischenschieben. Deswegen hat die Geschichte jetzt auch einen anderen Titel und eine ordentliche Kurzbeschreibung. Es tut mir sehr leid, wenn es dadurch zu Verwirrung gekommen sein sollte. Aber ab jetzt geht es in chronologischer Reihenfolge weiter. Demnach wünsche ich euch viel Spaß mit dem Kapitel, über Kommentare würde ich mich wie immer sehr freuen.

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Tyler versuchte mit immer stärker werdender Verzweiflung, die Geräusche seiner Umgebung auszublenden. Da war das kratzende Geräusch der Füllfederhalter auf Papier, leises Gemurmel auf den Bänken hinter ihm, das nervöse Tippeln eines Fußes auf dem Boden, leises Fluchen zwischen zusammengebissenen Zähnen, das Rascheln von Kleidung, als jemand auf seinem Stuhl unruhig hin und her rutschte. Seine Klassenkameraden atmeten alle in einem unterschiedlichen Rhythmus, ihre Herzen schlugen zu wild durcheinander. Er schaffte es kaum, die unwichtigen Reize herauszufiltern und zu ignorieren, alles prallte zugleich auf seinen überforderten Geist ein. Das Knistern von Papier, das unnormal laute Klackern, als ein Bleistift über die Kante des Tisches fiel und auf dem Boden landete. Das Kreischen von Holz auf Stein, als der Stuhl nach hinten geschoben wurde …

Es gelang ihm nicht. Er kniff die Augen zusammen, um sich zumindest optisch für einige Sekunden abzukapseln, doch es war, als würde er die Geräusche und Gerüche der Umgebung nur umso deutlicher wahrnehmen. Tyler öffnete wieder die Lider und starrte auf das Blatt Papier, auf dem er gerade einmal seinen Namen und das heutige Datum gekritzelt hatte. Staub tanzte in der Luft, sichtbar werdend vom einfallenden Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel. Seine Konzentration sank immer weiter, er konnte einfach nicht ausblenden, was seine überempfindlichen Sinne wahrnahmen.
Es war zu viel, viel zu viel …
Zu viele Gerüche, zu viele Geräusche, zu viele Reize. Der Geruch von Tinte hing in der Luft, das Aroma von Essen, das sie vor einer halben Stunde gegessen hatten. Tyler wusste, dass es im Botanikunterricht noch schlimmer war, weil dort auch die Pflanzen ihre Duftnoten abgaben, die für ihn meist noch schwieriger auszublenden waren. Zumal ihn das Gewächshaus an Gates erinnerte, an der oft genug dieselben Gerüche gehaftet hatten, die dort ständig präsent waren.
Aus irgendeinem Grund fiel es ihm heute besonders schwer, all das auszublenden, was seine Sinne wahrnahmen, auch wenn es im Mathematik- und Englischunterricht, den sie heute bereits gehabt hatten, noch mehr oder weniger aushaltbar gewesen war. Die Kopfschmerzen hinter seinen Schläfen wurden stärker, helle Formen tanzten hinter seinen Lidern, als er die Augen erneut zusammenkniff, nur um sie wenige Sekunden später wieder zu öffnen. Er begegnete Wednesdays Blick, die sich zu ihm umgewandt hatte. Sie saß ein paar Tische von ihm entfernt neben Enid, er konnte die Sorge aus den dunklen Augen ablesen. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, natürlich wusste sie es. Es gab wenig, was ihr entging, vor allem, was ihn betraf. Tyler begegnete ihrem Blick und schüttelte unmerklich den Kopf, zum Zeichen, dass sie momentan ohnehin nichts tun konnte, um ihm zu helfen. Sie musterte ihn nochmal kurz, bevor sie sich wieder ihrem Aufsatz zuwandte. Nicht zum ersten Mal verfluchte er stumm Gates und den Hyde dafür, dass er nun auch mit seinen überempfindlichen Sinnen zu kämpfen hatte. In der Gestalt des Anderen waren sie sogar noch stärker. Die vielen Reize prallten auf seine Wahrnehmung ein wie unaufhörlicher Wellengang, Tyler wusste, selbst wenn er sich die Ohren und die Nase zuhalten würde, würde es kaum etwas nutzen. Er stützte seinen Kopf auf die Hand, schloss erneut die Augen. Er fand den anderen schnell, doch anders als er es erwartet hatte, war der Hyde vollkommen ruhig, das Monster hatte sich beinahe gänzlich zurückgezogen, lauerte anders als so viele Male zuvor nicht unter der Oberfläche, kratzte nicht an seinem Bewusstsein.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt