Das schwarze Schaf

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Der Schrei eines Raben in den Baumwipfeln über ihm erinnerte Tyler an Wednesday. Sie hatte ihm erzählt, dass sie in ihrer Familie den Raben symbolisierte und dass ihre Visionen deshalb auf den Tod und das Leid zentriert waren. Er hätte sich deswegen Sorgen um sie gemacht, wenn er nicht wüsste, dass Wednesday Addams quasi dazu geboren wurde. Ihr schwarzer, bitterböser Humor, ihre Art, mit Menschen umzugehen und sie auch gelegentlich vor den Kopf zu stoßen, der Fakt, dass das Grauen sie anzuziehen schien, wie Motten vom Licht angezogen wurden. All das prädestinierte die Schwarzhaarige dazu, damit umzugehen, dem Schrecken und dem Tod immer wieder ins Auge zu blicken, ohne dass ihr Geist daran zerbrach. Wednesday war stur und willensstark, sie ließ sich nicht einschüchtern, sie würde es eher auf einen Kampf ankommen lassen, anstatt zu fliehen. Doch er ahnte, dass sie das nicht ewig mitmachen würde, irgendwann würde auch sie nachgeben. Selbst Wednesday hatte Grenzen. Und er fürchtete, dass sie diese schon eher erreicht haben würde, als ihr selbst lieb war, wenn sie nicht aufpasste.

Als er näherkam, sah er sie bereits. Wednesday saß an die alte Holzwand gelehnt im Inneren der Ruine des Versammlungshauses, eine Krähe saß zu ihren Füßen und beäugte kritisch Eiskaltes Händchen, der sich mit der Schwarzhaarigen durch Fingerzeig unterhielt. Neben ihr lag ein Buch und ihr lederner Rucksack, sie hatte ihre Jacke um etwas gewickelt, was auf ihrem Schoß lag.
Der Platz war mit dem Verstreichen der Wochen und Monate zu ihrem Treffpunkt geworden. Als seine Schritte ihn verrieten, sah sie auf, ihre Augen wurden sanft, als sie Tyler zwischen den Bäumen erblickte. Er trat näher, ein schüchternes Lächeln seinerseits. Galpin ließ sich neben ihr nieder, blickte verwundert auf das Bündel in Wednesdays Schoß. Die Schwarzhaarige bemerkte seinen fragenden Blick und zog daraufhin die Jacke ein Stück zurück.

Der Kopf eines schwarzen Lämmchens kam darunter zum Vorschein, es schlief.
„Ich hab es verletzt im Wald gefunden, es wurde wohl von seiner Herde getrennt“, erzählte Addams, während ihre Finger durch die warme Wolle fuhren. „Und da hast du es mitgenommen“, erkannte er, ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Das junge Schaf schlief seelenruhig weiter, als auch er seine Hand ausstreckte und den Kopf des Tieres streichelte. Tyler nahm sich vor, diesen Moment unbedingt in Erinnerung zu behalten, denn dieser Augenblick verschaffte ihm eine Ausgeglichenheit, die er selten fand. Auch Wednesday schien völlig ruhig, als würde es nichts geben, das sie belastete. Sie hatte in diesen ewig andauernden Minuten keine Angst, dass sie wieder eine Vision haben würde. Die Furcht, die sie seit einiger Zeit ständig zu begleiten schien, rückte in den Hintergrund.

Da waren nur sie, Tyler und das Lamm.

„Irgendwie sind wir auch schwarze Schafe“, brach er nach einer Weile das Schweigen. „Weil du ein Hyde bist, und dadurch weder wirklich zu den Außenseitern noch zu den Normies gehörst und weil ich so anders bin, wie es nur geht.“ Er nickte.

„Manchmal habe ich das Gefühl, von den Visionen mitgerissen zu werden. Das, was ich sehe, ist teilweise beängstigend, wühlt mich so sehr auf, dass es mir schwerfällt, Ruhe zu finden“, sagte sie plötzlich. Die Schwarzhaarige hatte erst gezögert, ob sie ihrem Freund erzählen sollte, was sie in letzter Zeit immer mehr zu beschäftigen schien, doch jetzt, wo sie die Worte hervorgebracht hatte, war es ihr, als wäre eine Last von ihren Schultern genommen worden. Doch Tyler war die Person, die ihre Bedenken vermutlich am besten verstehen würde, hatte auch er doch oft genug mit der Dunkelheit zu kämpfen gehabt, weswegen sie sich nun doch dazu durchgerungen hatte, sich ihm anzuvertrauen. Seine Andersartigkeit war bisweilen noch weitaus mehr Fluch als Segen als bei ihr, doch auch Addams merkte, dass ihr ihre Fähigkeiten zu schaffen machten.
„Du bist der furchtloseste Mensch, den ich kenne, Wednesday. Du glaubst daran, dass ich mit dem Hyde fertigwerde, dann lass dir von mir sagen, dass ich daran glaube, dass du mit deinen Visionen fertig wirst“, antwortete er. „Wenn wir lernen, unsere Dämonen zu bändigen, werden sie uns nicht mehr heimsuchen. Dann sind wir es, die sie kontrollieren. So ist es bei mir mit dem Hyde und bei dir mit deinen Visionen.“ Wednesday hatte nicht das Gefühl, dass er ihre Angst kleinredete, sie wusste, dass er sie wahrscheinlich besser verstand als irgendjemand sonst, weswegen ihr seine Worte mehr Zuversicht schenkten, als es die anderer Menschen je gekonnt hätten.  

Doch trotzdem hörte sie den zweifelnden Unterton, es schien ihm schwer zu fallen, tatsächlich an das zu glauben, was er sagte. Seine Worte entsprachen der Wahrheit, dennoch konnte Tyler diese Wahrheit nicht so leicht akzeptieren, konnte sie nicht auf sich beziehen, auch wenn es ihm einen Teil seiner Last von den Schultern nehmen würde.

Wednesday musterte ihn, bemerkte die Augenringe, das leichte Zittern seiner Finger, das er vergeblich zu verbergen versuchte. „Es wird nicht besser“, erkannte sie. Kopfschütteln. „Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach nachgeben“, bemerkte Tyler. „Es ist kräftezehrend, immer um die Kontrolle zu kämpfen, wenn man das Gefühl hat, dass der Hyde über kurz oder lang sowieso gewinnen wird.“ Sein Blick war zu Boden gerichtet, die Schultern gebeugt. Er spürte Wednesdays durchdringenden Blick auf sich, doch während dieses Starren andere zu beunruhigen vermochte, bewirkte es bei ihm meist das genaue Gegenteil. Seine Hände hörten auf zu zittern, als sich Wednesdays Finger um seine legten. „Ich will nicht, dass er die Kontrolle gewinnt, dass er Verbrechen begeht, für die ich am Ende verurteilt werde, weil ich eben nicht die Kontrolle behalten und es verhindern konnte. Doch es ist so schwer, immerwährend dagegen anzukämpfen.“

„Du hast mit Onkel Fester trainiert, die Sinne und Instinkte des Hydes besser zu nutzen, dir die Gestalt der Kreatur zu eigen zu machen, ohne dass sein Bewusstsein übernimmt. Du kämpfst dagegen an, Tyler, gegen das Böse, welches sich in der Form des Hydes manifestiert.“ Er hob den Blick, sah in ihre dunklen Augen. „Und gleichzeitig hast du gelernt, es stückweise zu akzeptieren. Und das ist gut.“
Sein Lächeln war zaghaft, der Blick unsicher, doch trotzdem bemerkte Wednesday, dass ihm ihre Worte Trost spendeten. Und auch wenn sie es von sich nicht in hundert Jahren gedacht hätte, konnte sie nicht leugnen, sich über ebendiesen Umstand zu freuen.

Tyler schaffte es immer wieder, sie aus ihrer Komfortzone zu locken und ihr aber auch gleichzeitig zu zeigen, dass soziale Interaktion nicht per se schlecht war, auch wenn sie diese so viele Jahre ihres Lebens aufs Tiefste verabscheut hatte. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, wirklich dazuzugehören und auch wenn das zu einem großen Teil auch daran gelegen hatte, dass sie die Menschen um sich herum durch ihre Art immer wieder von sich gestoßen hatte, hatte der Fakt, dass sie mit dem Sozialverhalten der anderen wenig anzufangen wusste, auch dazu beigetragen. Sie hatte es gehasst, ihren Mitschülern auf der normalen High School beim Smalltalk nur zuzuhören, sie sah keinen Sinn, sich über Nichtigkeiten zu unterhalten, da man seine Zeit durchaus sinnvoller nutzen konnte. Soziale Interaktion war ihr nie leicht gefallen, und sie hatte sich auch nie die Mühe gemacht, sich damit auseinanderzusetzen, da sie es nicht brauchte. Die Menschen blieben ihr in den meisten Fällen ein Rätsel, die Verhaltensweisen der Gleichaltrigen waren häufig irrational und auf kleinliche Belange und kurzsichtigem Denken begründet. Sie schien nicht wirklich in die Welt der anderen zu passen und auch wenn sie es versuchen würde, so wusste Wednesday doch, dass es ihr nie ganz gelingen würde. Es würde immer etwas geben, was sie von den anderen abgrenzte. Tyler war der erste gewesen, der sie so genommen hatte, wie sie war. Er respektierte ihre Grenzen, akzeptierte ihre Eigenarten und ihre Andersartigkeit ohne ihr das Gefühl zu geben, nicht in diese Welt zu passen, wo sich ihr Denken und ihre Wahrnehmung doch so sehr von der der anderen Menschen unterschied.

Die schwarze Krähe saß noch immer vor ihnen, verfolgte ihr Gespräch, bevor sie nach einigen weiteren Minuten offenbar das Interesse verlor, sich flügelschlagend und mit einem heiseren Krächzen erhob und verschwand. Das Lamm regte sich, öffnete blinzelnd die Lider, blickte aus großen Augen zu ihnen auf. Tyler konnte das kleine Lächeln auf Wednesdays Lippen genau sehen, während sie das Tier weiterhin streichelte. Dem jungen Schaf schien die Zuneigung sichtlich zu gefallen.

Dieser Augenblick reichte aus, um Selbstzweifel und Ängste für einige Zeit zu vergessen. Und davon hatten Wednesday und Tyler mehr als genug, mehr sogar, als gut für sie war. Doch wie das Lamm waren auch sie schwarze Schafe, passten nicht zum Rest der Herde und wurden wegen ihrer Andersartigkeit auch teilweise ausgegrenzt.

Doch in diesem Moment hatten sich drei schwarze Schafe gefunden und erinnerten einander daran, dass sie nicht allein waren.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt