Was im Dunkeln weilt

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Triggerwarnung: Konversation über Suizidversuche

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Je öfter sich Tyler im Bradbury-Turm aufhielt, desto mehr schätzte er die Abgeschiedenheit des Gemäuers und so langsam lernte er das Gebäude immer besser kennen. Die Mauern waren ihm vertraut, die angenehme Kälte im Inneren, die ausgetretenen steinernen Treppenstufen, die Zellen und Räume, die kleinen vergitterten Fenster, durch die oft nur wenig Licht fiel, die Spinnen und sonstiges Ungeziefer, das sich in den Jahrzehnten der Verwahrlosung fernab der Nutzung heimisch gemacht hatten, die Fledermäuse im Dachgebälk. Er genoss die Zeit, die er hier verbrachte, weitab von seinen Mitschülern. Er vernahm nicht mehr das Getuschel hinter seinem Rücken, bei dem er sich regelrecht zwingen musste, wegzuhören, bevor seine Ohren noch das vernahmen, was er garantiert nicht hören wollte, er blieb von den missbilligenden Blicken verschont und konnte ignorieren, dass er wie ein Außenseiter inmitten von Außenseitern behandelt wurde. Auch Hyde delektierte sich an der Ruhe, die ihm die Abgeschiedenheit des Turms verschaffte.

Als Tyler an diesem Nachmittag nach dem Unterricht zu dem hochaufragenden Gebäude ging, bemerkte er sofort anhand ihres Geruchs, dass Wednesday bereits da war. Mit der Zeit hatte er gemerkt, dass sie oft Zeit für sich brauchte und sich in diesen Stunden meist von allen zurückzog und da sie das in ihrem Zimmer wegen Enid oft nicht konnte, war der Turm auch für sie ein Rückzugsort geworden. Sie hielt sich immer auf dem Dachboden auf und da er häufig in einer der Zellen saß, kamen sie einander nicht in die Quere und störten sich nicht. Tyler setzte sich an den Tisch in einem der kleineren Räume und holte seine Hausaufgaben aus seinem Rucksack. Er ließ die Tür zur Treppe offen, um zu sehen, wenn Wednesday ihren Posten in der Spitze des Turms verließ, dann steckte er sich seine IPods in die Ohren und machte sich daran, seinen Vortrag über die Unterschiede zwischen den realexistierenden Hydes und Mr. Hyde, wie Stevenson ihn in seiner Novelle dargestellt hatte, vorzubereiten, die Geigenklänge von Paganini im Ohr. Er musste diesen Vortrag in zwei Wochen in „Seltene Arten von Außenseitern" halten, worauf er sich überhaupt nicht freute, da er wusste, dass der Lehrer Thomas Chappel einer derer war, der ihn offen für das verurteilte, was vor etlichen Monaten passiert war.

Als Tyler nach zwei Stunden hörte, dass Wednesday die Treppe hinunterkam, legte er den Füllfederhalter beiseite und stand auf, während er die IPods nachlässig in seine Hosentasche stopfte. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte ihr entgegen. Wednesday musste tief in Gedanken versunken sein, denn sie zuckte zusammen, als sie ihn bemerkte, was sie erst tat, als sie direkt vor ihm stand. Sie blickte fragend zu ihm auf.
„Ich muss dir noch was zeigen, Wednesday", sagte er, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte. Addams nickte bloß und folgte ihm die Treppen hinunter. Tyler sah kurz hinter sich und bemerkte, dass Wednesday seltsam angespannt und erschöpft wirkte. Sie hatte ihre sonst so gerade Haltung aufgegeben, die Schultern sackten nach vorne und auch ihre Zöpfe waren eher nachlässig und unordentlich geflochten, etwas, was er in all der Zeit, in der er sie kannte, noch nie bei ihr gesehen hatte. „Geht es dir gut?", fragte Tyler vorsichtig. Wednesday vernahm den sorgenvollen Unterton. „Ich will gerade nicht darüber reden", entgegnete sie kurzangebunden, blickte ihm dabei jedoch in die Augen und ließ ihn mit einer kurzen Berührung ihrer Finger mit seiner Hand wissen, dass er sich keine Gedanken darüber zu machen brauchte.

Das Mädchen fühlte sich ausgelaugt. Es war schon eine Weile her, seit sie das letzte Mal eine Nacht ohne Albträume gehabt hatte, aber noch viel mehr störte sie das ungute Gefühl, welches sie so häufig in letzter Zeit überkam, dessen Ursprung sie aber unmöglich festmachen konnte. Sie spürte intuitiv, dass irgendetwas im Argen lag, irgendetwas würde ans Licht kommen und sie wusste, dass es wie ein Sturm über sie hinwegfegen würde, sodass danach nichts mehr war, wie vorher. Es verunsicherte sie, nicht zu wissen, was genau auf sie zukam, ob es nur sie selbst betraf oder auch ihre Freunde oder gar die ganze Schule. Es war ein vages aber dennoch nicht zu ignorierendes Gefühl der Bedrohung, welches über ihr hing wie ein Damoklesschwert, dräuend und obskur. Doch die Zukunft lag wie so oft im Dunkeln. Es war ziemlich lange her gewesen, seit sie das letzte Mal eine Vision gehabt hatte, vielleicht lag es daran, dass sie es vermied, andere zu berühren oder Objekte anzufassen. Doch sie war erleichtert darüber, weil dies auch hieß, dass sie nicht erneut mit dem Leid der anderen konfrontiert war, aber irgendwie merkte sie, dass es noch einen anderen Grund haben musste, warum ihre Fähigkeiten nachgelassen hatten.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt