Von Büchern und Klauen

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Während die rotglühende Sonne langsam hinter den Wipfeln der Bäume verschwand, tippte Wednesday den letzten Satz des Kapitels in ihre Schreibmaschine. Und kaum dass das Klappern der Tasten verstummt war, war es plötzlich so still in dem Zimmer, dass es unangenehm wurde. Enid war bei Yoko, sie war allein. Wednesday hatte ganz vergessen, wie drückend die Stille sein konnte, wie sie sich über sie legte und manchmal fast nicht auszuhalten war. Wie sie die Glieder lähmte und das Denken zum Stillstand brachte. Sie war wieder allein mit sich, mit ihren Gedanken, war auf sich selbst zurückgeworfen und damit manifestierten sich die Ängste in ihrem Verstand. Wednesdays Inneres fühlte sich mit einem Mal seltsam taub an, die Eiseskälte kam zurück, nistete sich in ihr ein und sorgte dafür, dass sie sich innerlich fühlte, als wäre sie tot. Es war ein Gefühl, welches sie eigentlich mochte, doch aus irgendeinem Grund hatte sie für diese Empfindung nur noch Verabscheuung übrig. Seit die Albträume angefangen hatten, die zu real waren, um nur Träume zu sein. Seitdem fürchtete sie die Stille und die Gedanken in ihrem Kopf, die immer lauter wurden, je leiser die Umgebung war.

Sie blickte zu dem Handy, das Xavier ihr geschenkt hatte, und nicht zum ersten Mal hatte sie das Bedürfnis, das Mobiltelefon einfach weg zu werfen, oder es besser gleich zu zerstören. Doch der Stalker schickte ihr auf dieses Gerät die Nachrichten und dementsprechend stellte es vielleicht die einzige Möglichkeit dar, ihn aufzuspüren. Sie hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, wer es sein könnte, und das frustrierte sie. Diesmal konnte sie sich nicht auf ihre Visionen verlassen. Ihre Fähigkeiten würden ihr nichts nützen, zumindest nicht, um die Person zu identifizieren. Wer auch immer der Stalker war, er hatte ihre Nummer. Eine imaginäre Zahlenfolge auf dem Display des Handys. Und damit war es unmöglich, anhand dieser Zahlenfolge herauszufinden, wer außer Thorpe noch davon gewusst hatte, als er ihr das Ding schenkte. Sie nutzte es nicht einmal. Tyler und Enid hatten darauf bestanden, dass Wednesday ihre Nummern einspeicherte, um sie im Notfall erreichen zu können, somit waren nur zwei Kontakte eingespeichert, da sie Xaviers Nummer sofort wieder gelöscht hatte, nachdem er ihr das Gerät geschenkt hatte. Der Stalker schickte ihr nicht viele Nachrichten, aber er bedrohte nun nicht mehr nur sie, sondern auch Tyler, Enid und Eugene. Diese Drohungen waren für Wednesday schlimmer als die Drohungen gegen sie selbst. Es waren ihre Freunde, die dieser kranke Typ nun auch noch im Visier hatte und sie würde nicht eher ruhen, bis er gefasst war. Doch dieses Unterfangen hatte sich im Laufe der letzten Monate als beinahe unmöglich herausgestellt. Es gab keinen roten Faden, dem sie folgen konnte.

Seit ihre Mutter ihr in den Semesterferien geholfen hatte, mit ihren Visionen umzugehen, sie besser zu kontrollieren, waren sie deutlich seltener geworden. Vielleicht lag es auch daran, dass es momentan keine geheimen, dunklen Machenschaften aufzudecken galt, – bis auf das Rätsel um die Identität des Stalkers zumindest – dass der Alltag an der Nevermore so normal war, wie es an einer Schule voller Außenseiter nur sein konnte. Doch letztendlich war dieser Umstand nichts, was Wednesday nicht insgeheim guthieß. Die Visionen mochten ihr geholfen haben, die Ereignisse und Mordfälle des letzten Jahres aufzuklären, aber letztendlich hätte sie auf die meisten der Visionen, die sie in dieser Zeit bekommen hatte, getrost verzichten können. Auch dass es Eugene gewesen war, mit dessen Wissen sie Thornhill als Täterin hatte entlarven können, hatte Wednesday bewusst gemacht, dass sie sich zu sehr auf ihre Fähigkeiten verlassen hatte, dass diese aber nicht alle Informationen bereithielten. Es waren immer nur Bruchstücke. Sie hatte durch eine Vision erfahren, dass Tyler der Hyde war, aber sie hatte nicht tiefer blicken können, hatte nicht erfahren, was Thornhill ihm angetan hatte, damit das Monster Gestalt annahm. Sie hätte anders gehandelt, hätte sie es gewusst, wäre nicht weggerannt, hätte ihn nicht foltern wollen, um zu beweisen, dass er der Hyde war. Sie hätte ihn nicht sofort verteufelt. Wenn sie anders vorgegangen wäre, behutsamer, wer weiß, ob sie Thornhill nicht gemeinsam hätten stürzen können. Es wäre vielleicht möglich gewesen, zum mindesten, wenn die grauhäutige Bestie auch mitgespielt hätte. Natürlich war es fraglich, da der Hyde nach den Aufzeichnungen, die sie hatten, seinen Meister nicht hintergehen konnte, aber Tyler hätte es versuchen können. Sie wusste, wie sehr er Laurel Gates hasste und dass er sie am liebsten eigenhändig umgebracht hätte.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt