Vergeltung

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Triggerwarnung: Erhöhte Gewalt

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Langsam hielt der Winter Einzug mit seinen eisigen Winden, mit Schnee und Kälte. Die Bäume verloren gänzlich ihre Blätter, die Nächte wurden dunkler, die Tage kürzer. Der Himmel war nun meist bedeckt von dunklem, schweren Gewölk, kaum Sonnenstrahlen kamen hervor. Es war eine Zeit, die Wednesday überaus gernhatte, wusste sie doch, dass die Grenzen zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten verschwammen und durchlässig wurden, wie ein seidiger, dünner Vorhang, der jeden Augenblick zerriss und preisgab, was dahinter lag. Vorallem in den Rauhnächten würde das der Fall sein, von Heiligabend bis zum Dreikönigstag am 6. Januar. Die Wintergeister und Schatten kamen hervor, die Mahre und Schrate, Unholde und Huldren, die Draugen und Untoten. Zumindest erzählte man es sich so. Sie war zu ihrem Bedauern noch nie leibhaftig einem dieser Wesen begegnet, doch sie wusste, dass sie existierten. Wenn es Yetis gegeben hatte und in Skandinavien und vorallem in Norwegen noch immer Trolle lebten, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass auch jene Kreaturen auf der Erde wandelten, von denen man meist in Märchen und Geschichten hörte.

Seit Tyler und Hyde zu einer Übereinkunft gekommen waren und Frieden geschlossen hatten, war Tyler ausgeglichener und entspannter als je zuvor. Vielleicht wussten nur Wednesday, Enid und Ajax, dass es eigentlich Hyde war, der hin und wieder mit ihnen im Unterricht saß, den anderen schien es kaum aufzufallen. Eventuell lag es auch daran, dass Hyde nicht mehr aus der Haut fuhr, wenn man ihn Tyler nannte und er sich beinahe genauso verhielt, wie Jekyll, sodass viele überhaupt keinen Unterschied zwischen den beiden sahen. Es konnte auch daran liegen, dass die meisten Schüler Hyde mit dem riesenhaften, furchteinflößenden Monster verbanden und nicht wussten, dass es ebenfalls Hyde war, wenn die Augen des Siebzehnjährigen dunkler erschienen, die Gesichtszüge härter waren und der Blick kalt und distanziert. Tyler war es nur recht, dass Hyde kein Aufsehen erregte. Ajax begann mit der Zeit, sich einen Spaß daraus zu machen, Hyde zu nerven. Doch dieser ließ sich davon weder beeindrucken, noch aus der Reserve locken und für die Nachtseite war es gleichzeitig eine gute Gelegenheit, zu versuchen, nicht darauf einzugehen und seinen Jähzorn zu unterdrücken. Als er aber einmal bei Ajax im Zimmer übernachtet hatte, hatte er sich aber an dem Gorgonen gerächt, in dem er ein paar der Schlangen auf seinem Kopf zusammengeknotet hatte. Es stellte sich heraus, dass Hyde nicht paralysiert werden konnte. Wednesday hatte Hyde nur anerkennend auf die Schulter geklopft, nachdem Ajax sich am nächsten Morgen beim Frühstück darüber beschwerte, wie mühsam es gewesen war, seine Schlangen wieder zu entknoten, da er dabei nicht in den Spiegel schauen konnte.

Während des Englischunterrichts kam Wednesday eine solch logische Idee, dass sie sich fragen musste, warum sie nicht schon viel eher auf diesen Gedanken gekommen war. Es lag so sehr auf der Hand, es wirkte so banal, dass sie sich fast dafür schämte, nicht früher daran gedacht zu haben. Schnell riss sie einen Zettel aus ihrem Block und kritzelte mit ihrem Bleistift eilig ein paar Zeilen darauf, bevor sie ihn Tyler zuschob, der neben ihr saß. Als dieser die Worte las, runzelte er die Stirn. Wednesday saß den Rest der Stunde wie auf Kohlen und konnte es kaum abwarten, endlich auf das Ende des Unterrichts zu warten.

Sie packte in Sekundenschnelle ihre Sachen zusammen und floh aus dem Klassenraum, kaum hatte Mrs. Hendricks die Stunde für beendet erklärt. Glücklicherweise hatte sie ihnen heute keine Hausaufgaben aufgegeben, denn darum hätte sich Wednesday definitiv nicht kümmern können, selbst wenn sie dafür eigentlich auch das ganze Wochenende Zeit gehabt hätte. Tyler folgte ihr mit schnellen Schritten und holte sie ein, sodass sie gleichauf waren, als sie auf den von einer dünnen Schneeschicht bedeckten, Viereckigen Hof hinaus ins spärlich vorhandene Sonnenlicht traten.
„Was meinst du damit, wir sollten nochmal in die Gates-Villa einsteigen“, flüsterte er, als sie sich in eine der Nischen zurückgezogen hatten. „Ich meine damit, dass wir nochmal in die Gates-Villa einsteigen, was ist daran so schwer zu verstehen?“, entgegnete Wednesday leicht genervt. Sie hatte keine Lust, noch Zeit mit großen Erklärungen zu verschwenden. „Ich werde es so oder so tun, ich dachte nur, du willst vielleicht mitkommen. Du kennst dich in diesem Haus doch mit Sicherheit besser aus, als ich“, sagte sie.
„Was ich meine, ist, warum willst du dahin?“, präzisierte Tyler. „Warum wohl? Weil Gates dort vermutlich Aufzeichnungen über dich und deine Mutter hat. Wie sie dich vergiftet hat und, was noch viel wichtiger ist, wie sie sie getötet hat. Dieses Wissen wäre in den Händen eines Hydes oder Jekylls weitaus besser aufgehoben, als in denen irgendeines Unwissenden, wenn es irgendwann einmal durch Zufall gefunden wird. Und das wird es definitiv. Also entweder suchen wir jetzt gezielt danach, oder irgendjemand findet es und stellt sonst was damit an. Schlimmstenfalls weiß er nichts damit anzufangen und veröffentlicht es in diesem Internet. Dann ist die Jagd auf dich und deinesgleichen eröffnet.“
„Okay, okay“, Tyler hob die Hände, um Wednesday zu beschwichtigen. „Ich komme ja mit, auch wenn ich hoffe, dass das nichts im Hyde auslösen wird.“
„Wieso sollte es?“, fragte Wednesday.
„Das letzte Mal, als er dort war, hat er sich selbst verletzt und Enid und dich in den Keller gejagt“, erinnerte er sie daran.
„Da ward ihr noch keine Brüder und er stand noch unter Laurels Kontrolle“, entgegnete sie trocken. „Da wir keinen Unterricht mehr haben, hält uns nichts mehr davon ab, jetzt zu gehen. Ich frage noch Enid, ob sie mitkommen will. Wir treffen uns am Tor.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand Richtung Ophelia Hall.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt