Friedhofsspuk

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Die Luft war kühl, der Himmel noch klar und blau, doch die Dunkelheit senkte sich langsam aber stetig herab, ließ die Schatten länger und drohender werden. Fahles Dämmerlicht löste die hellen Sonnenstrahlen ab, die hinter dem Horizont verschwanden, und ihr letztes Licht über den Friedhof mit den steinernen Statuen schickten. Weinende Engel, die über Gräbern kauerten, die Tränen kalt und grau. Schmiedeeiserne, verzierte Kreuze, in denen die Namen der in den Gräbern liegenden eingraviert waren; Steine, von Moos überzogen, die Erde davor mit Efeu überwuchert, die Inschriften oftmals kaum noch entzifferbar.
Der Friedhof war größer, als es zuerst den Anschein machte, mehr als fünfhundert Seelen waren im Laufe der letzten Jahrzehnte hier zu ihrer letzten Ruhe gebettet worden. Neben einigen Gräbern standen rote Grablichter, die Kerzen flackerten, manche wurden vom stärker werdenden Wind ausgeblasen. Die Kapelle, die in der Mitte des Friedhofs stand, neben einer alten Eiche und mehreren krummgewachsenen Kiefern, wurde schon lange nicht mehr benutzt. Eine hohe steinerne Mauer umgab den Friedhof. In den letzten zwanzig Jahren waren keine neuen Gräber ausgehoben worden. Es gab einen anderen Totenacker, der nicht so weit von der Stadt entfernt war wie dieser, und auf dem die Menschen nun ihre letzte Ruhestätte fanden, weswegen bis auf ein paar Angehörige der Beerdigten kaum noch jemand hier her kam, außer hin und wieder ein Friedhofsgärtner, der die Wege von den heruntergefallenen Blättern befreite.  

Ein Mädchen mit zwei Zöpfen saß auf der alten Kirchenbank gegenüber der Tür, tief in Gedanken versunken. Neben der Bank lag ein Löwe, den Kopf auf den Vorderpfoten liegend und schlafend. Der Raum wurde von Kerzen erleuchtet, die in mehrarmigen, dunkelverrußten, hohen Kerzenständern überall in der Kapelle verteilt waren, helles Wachs rann an ihnen herab. Wednesday blickte auf, als die schmale Tür geöffnet wurde, ein Junge mit braunen Locken, die im Kerzenlicht rot schimmerten, trat ein, schloss die Tür hinter sich, trat zu ihr und blieb neben ihr stehen. Das Mädchen erhob sich, als der andere sprach: „Pugsley meinte, dass ich dich hier vielleicht finden würde.“

Die Kapelle war ein Rückzugsort für Wednesday. Wann immer es ihr im Anwesen ihrer Familie zu anstrengend wurde, zog sie sich hierher zurück. Manchmal um zu lesen, manchmal auch nur, um die Stille zu genießen. Zwei Wochen waren vergangen, seit sie an diesem Ort mit Tyler das Ritual durchgeführt hatte und seitdem halfen ihm Gomez und Fester, der vor zehn Tagen angekommen war, sich in die grauhäutige Kreatur zu verwandeln, ohne dass der Hyde die Kontrolle übernahm. Es war kräftezehrend und anstrengend, zumal Tyler noch immer das Gefühl hatte, dass der Hyde versuchen könnte, den letzten Befehl auszuführen, den Gates ihm gegeben hatte: Wednesday zu töten.
Bisher hatte es Galpin immer geschafft, die Kontrolle zu behalten, wenn er in der Gestalt seiner Nachtseite war, aber er merkte, dass Hyde immer unwilliger und rebellischer wurde.  

Wednesday bemerkte, dass etwas nicht stimmte, als sie in Tylers Gesicht sah. Er war so bleich, als hätte er einen Geist gesehen, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Sein Blick irrte umher, nahm das Innere der Kapelle in Augenschein, wich ihren schwarzen Onyxen aus. Sie trat weiter auf ihn zu, griff zögerlich nach seiner Hand. Die Berührung schien ihn aus seiner Trance zu reißen, er sah sie an. Wednesday konnte die Furcht erkennen, die in seinem Blick lag. „Was ist los, Tyler?“, fragte sie, ihre Stimme war leise. Er antwortete nicht gleich, doch sie erkannte, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. „Ich kann ihn nicht mehr so leicht kontrollieren, Wednesday. Er wird immer stärker.“
Er schluckte und blinzelte die aufkommenden Tränen fort.

„Ich will nicht noch mehr Blut an meinen Händen haben“, flüsterte er. „Ich will nicht, dass er dich tötet.“ Die Furcht hatte sich seiner bemächtigt, sobald Tyler bemerkt hatte, dass der Hyde stärker wurde, als er registrierte, dass es so viel schwerer wurde, die Kontrolle zu behalten. Und nun fraß ihn die Angst schier auf. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, wie er es schaffen sollte, das Monster zu bändigen, das schon so viel Unheil gebracht hatte, das in seinem Inneren lauerte, und versuchte, auszubrechen und dem geistigen Gefängnis zu entkommen, in das Tyler den Hyde gesperrt hatte.
Auch die ständigen Albträume, von denen er geplagt wurde und die Panikattacken, die ihn heimsuchten, zerrten an seinen Kräften.

Der Seele tiefster SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt