Der Geruch der Kiefern war intensiv, doch da waren noch andere Reize, die er wahrnahm. Der Ruf einer Krähe, die Geräusche des Windes, der angenehme Duft von Harz. Es fühlte sich wie Heimat an, hier zu sein, nirgendwo sonst waren ihm die Gerüche und Geräusche so vertraut. Hier konnte er zur Ruhe kommen. Er stand mit dem Rücken an einen der alten Bäume gelehnt und lauschte dem Flüstern des Windes. Seine Nasenflügel blähten sich, als er ihren Geruch wahrnahm. So vertraut, so beruhigend, wie sonst kaum etwas.
Wednesday folgte dem Ruf der Krähen in den Wipfeln der Bäume, die sie immer zu ihm zu führen schienen. Sie wusste, dass es nicht ihr Freund wäre, den sie antreffen würde, denn die schwarzen Vögel umkreisten den Hyde, wie auch der weiße Wal Moby Dick in Melvilles Roman stets von einem Schwarm Möwen umkreist worden war. Es war ein Tanz auf Messers Schneide, auf den sie sich jedes Mal einließ, wenn sie mit dem Monster redete, reichte doch nur ein falsches Wort aus, um ihn dazu zu verleiten, ihr das Genick zu brechen. Oder ihr die Kehle aufzuschlitzen, je nachdem, in welcher Gestalt sie ihn antreffen würde. Addams wusste nicht, ob Tyler verhindern könnte, dass seine Nachtseite sie umbrachte, bisher hatte sie sich jedoch noch nie in derartiger Gefahr befunden. Doch die Bedrohung war dennoch immer spürbar, denn der Hyde war impulsiv, launisch, jähzornig und schwer einzuschätzen. Aber Wednesday wäre nicht Wednesday, wenn sie sich nicht willentlich immer wieder dieser Gefahr aussetzte. Und bisher hatte auch der Hyde keinerlei Intention gehabt, sie grundlos anzugreifen, von seinem Mordversuch bei Crackstones Krypta einmal abgesehen, aber das war ohnehin auf Gates‘ Befehl hin geschehen.
Sie hielt inne, als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Er bemerkte ihr Zögern.
„Du kannst ruhig näherkommen, Unglücksbote.“
Seine Stimme ließ nicht vermuten, dass es nun der Hyde war, der die Kontrolle besaß, doch seine Gesichtszüge waren härter, die Augen dunkler, der Blick erbarmungslos und eiskalt.Sie trat näher, stellte sich an die Seite des Monsters. Keiner von beiden rührte sich. Wednesday musterte ihn aus dem Augenwinkel. Er hatte die Hände in den Taschen seines dunkelblauen Pullovers vergraben, Hyde wirkte so entspannt, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Doch das täuschte, wie Addams nur allzu gut wusste.
„So langsam verstehe ich, was er an dir findet“, sagte der Hyde und brach damit das minutenlange Schweigen, das zwischen ihnen geherrscht hatte.
„Was meinst du damit?“, fragte sie, ohne ihn direkt anzublicken, ihre Augen waren geradeaus gerichtet. Er durchbohrte sie mit seinem Blick, trat dann vor sie.
„Sieh mich an“, befahl er. Wednesday hob nach einigen Sekunden den Blick. Die starre Kälte in seinen Augen war beinahe nicht auszuhalten, und die Schwarzhaarige konnte nicht leugnen, dass er tatsächlich beängstigend war. Sein Auftreten, seine Erscheinung, seine gesamte Präsenz war auf einmal so furchteinflößend, dass es ihr unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte. Sie konnte das Unbehagen, das von ihr Besitz ergriff, nicht leugnen. Wednesdays Blick irrte hin und her, mal zu seiner Stirn, der Nase, den Narben oder über seine Schulter hinweg.
„Du schaffst es kaum.“
Das Lächeln, das sich um seine Mundwinkel bildete, erreichte nicht seine Augen, es wirkte vielmehr bedrohlich und durchweg unangenehm. Und belustigt.
„Ist er dir schon so sehr an dein schwarzes Herz gewachsen, dass du es nicht schaffst, mir in die Augen zu sehen? Sonst fällt es dir nicht so schwer, Blickkontakt zu halten.“
„Könnte an dir liegen“, erwiderte sie.
„Schlagfertig wie eh und je.“
Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und lehnte sich wieder an den Baum.Es war merkwürdig, mit dem Hyde zu reden, weil es immer noch Tylers Gesichtszüge waren, seine Stimme, seine Gestalt. Und dennoch wirkte er so anders. Er schien weniger menschlich und seine Haut war weitaus bleicher, als gesund sein konnte. Hyde hatte etwas an sich, das nicht so recht in das Gesamtbild zu passen schien, aber es war unmöglich zu sagen, was ihr so falsch vorkam. Der Blick, mit dem er sie nun musterte, war unnachgiebig und mitleidlos, die Schwarzhaarige wusste, dass er ihr leicht den Garaus machen könnte. Sie war sich bewusst, dass sie ihm kaum etwas entgegenzusetzen hätte, wenn er es tatsächlich darauf anlegte, sie zu töten. Doch er machte auch jetzt weder mit Wort noch mit Tat deutlich, dass er diese Absicht hegte, weswegen sie gänzlich entspannt blieb. Es brauchte schon mehr als einen Hyde, um sie einzuschüchtern. Dennoch war sie nicht so dumm, ihn zu verärgern. Sie wusste, dass es eigentlich schon ziemlich riskant war, ihm überhaupt Widerworte zu geben. Trotzdem tat sie zumindest das immer wieder.
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Der Seele tiefster Schatten
FanfictionFast zwei Jahre lang hatte Tyler keine Kontrolle über sein Leben. Bis Gates stirbt. Ab diesem Zeitpunkt ... gibt es einen Lichtblick. Doch die größte Hürde liegt erst noch vor ihm, denn nun muss er lernen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was pass...