Vielleicht hatte sie es geahnt, aber genau konnte Wednesday nicht benennen, warum sie auch weit nach Mitternacht noch immer an ihrem Fenster stand und in die Dunkelheit hinausblickte. Die Kerze, die auf der Fensterbank stand, war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Sie wusste in dem Moment, in dem sie ihn sah, warum ihr Instinkt ihr geraten hatte, auszuharren. Nur einen Augenblick später verließ sie fluchtartig ihr Zimmer, stürmte die breite Treppe hinunter in die Eingangshalle, nur um urplötzlich vor der Tür innezuhalten. Das Geräusch des Türklopfers riss sie aus ihrer Starre, dennoch war sich Wednesday nicht sicher, ob sie ihm wirklich öffnen sollte.
Wen würde sie vorfinden, Tyler oder den Hyde? Würde er wieder versuchen, sie zu töten? Selbst wenn es nicht der Hyde war, der dort in der Finsternis lauerte … hatte er nicht ihr Vertrauen missbraucht, sie manipuliert und belogen, nur mit ihren Gefühlen gespielt?„Selbst wenn …“, murmelte Wednesday, wütend über sich selbst. „Soll er ruhig versuchen, mich zu töten.“
Und damit überwand sie die letzten Meter, griff nach der Klinke und öffnete die Tür.Tylers Blick war unsicher, immer wieder irrten seine Augen umher, er vermied es, sie anzusehen. Seine Stimme war fast unhörbar, als er sprach. „Auch wenn du dir wahrscheinlich wünschst, mich nie mehr wiederzusehen, Wednesday, ich brauche deine Hilfe.“
„Wieso bist du ausgerechnet zu mir gekommen, Hyde? Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“ Tyler zuckte bei der Bezeichnung zusammen, Wednesday registrierte diesen Umstand mit Genugtuung.
„Weil du wahrscheinlich die Einzige bist, die mich nicht an die Cops ausliefern wird, zumindest nicht, wenn ich dir erzählt habe, warum ich geflohen bin. Und die Adresse stand in der Akte deines Vaters und auch wenn die schon gut zwanzig Jahre alt ist, dachte ich, dass es einen Versuch wert ist, hierher zu kommen.“
Wednesday runzelte die Stirn, musterte ihn kurz, was in der Dunkelheit fast sinnlos war. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, war sie beeindruckt. Ob von seiner Dummheit, sie aufzusuchen, oder von seiner offensichtlichen Verzweiflung, die ihn dazu veranlasst hatte, eine uralte Adresse in einer Strafakte als Anhaltspunkt für ihr Zuhause zu nehmen, musste sie noch entscheiden.
Seine Stimme riss sie wieder aus ihren Gedanken. „Darf ich reinkommen? Ich verspreche, ich werde dir alles erklären.“
Nach kurzem Zögern trat sie beiseite, was Tyler als Zustimmung nahm und sich an ihr vorbei ins Innere des alten Anwesens schob.Wednesday lief zu einer Kommode, holte Streichhölzer aus ihrer Hosentasche und entfachte die Kerze, die in einem silbernen Leuchter auf dem Möbelstück stand. Das warme Licht warf flackernde Schatten auf die Wände, sie wandte sich, die Leuchte in der Hand, wieder Tyler zu, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte. „Komm mit“, forderte sie ihn auf, bevor sie die Treppe wieder hinaufging. Der Ältere folgte ihr, sah sich hin und wieder neugierig um. Sie führte ihn in ihr Zimmer, stellte die Kerze auf ihren Schreibtisch und bedeutete ihm, sich auf den Stuhl zu setzen, der davorstand, während sie sich selbst auf ihrem Bett niederließ.
Tyler folgte ihrer Aufforderung, setzte sich ihr gegenüber, bevor er den Rucksack, der auf seinen Schultern geruht hatte, neben sich abstellte.
„Nun erzähl“, befahl sie. „Was ist passiert, dass du dich deiner gerechten Strafe entziehen willst?“„Die wollen mich nicht in ein normales Gefängnis stecken, oder in eines für Schwerverbrecher“, begann er. „Ich habe ein Gespräch zwischen zwei der Leute belauscht, die mich wegbringen sollten, und die haben sich darüber unterhalten, dass man mich offenbar Experimenten unterziehen will, um den Hyde weiter zu erforschen.“
Wednesday verzog keine Miene, als er ihr das offenbarte, fast fürchtete er, sich geirrt zu haben, dass sie ihn doch ausliefern würde, nun jedoch in dem Wissen, dass er gequält werden würde. Dass er das bekommen würde, was er verdiente. Eine Haftstrafe hätte Tyler klaglos hingenommen, solange er wusste, dass es keine Möglichkeit für den Anderen gab, wieder zu morden, doch als Versuchsobjekt wollte er nicht enden.
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Der Seele tiefster Schatten
FanfictionFast zwei Jahre lang hatte Tyler keine Kontrolle über sein Leben. Bis Gates stirbt. Ab diesem Zeitpunkt ... gibt es einen Lichtblick. Doch die größte Hürde liegt erst noch vor ihm, denn nun muss er lernen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was pass...